Heinrich-Bullinger-Briefwechseledition, Universität Zürich © Heinrich Bullinger-Stiftung Arpa Bibliothek Textbreite Schriftgröße

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Utz Eckstein an
Bullinger und
die Prediger von Zürich
[Ohne Ort ,
Ende 1532 3 ]

Autograph: Zürich StA, E II 441,147. Siegelspur Gedruckt: Paul Zinsli, Notvolles Prädikantenschicksal, in: Reformatio. Zeitschrift für evangelische Kultur und Politik, IX. Jg., 1960, S. 370f

Schildert die verzweifelte Notlage seiner Familie nach der Vertreibung aus Rorschach. Hat in Konstanz Hilfe erhalten. Erhofft von Bullinger Trost und Rat.

Ir aller liebsten brüder in Christo unserem herren.

Der allmächtig, truw und güttig gott welle üch zu aller zytt mitt der krafft sins geysts krefftigen, uff das ir und die üweren von tag ztag zu nemmind und uffwachsind in waarer erkanntnuß gottes dess vatters und unsers herren Jesu Christi 4 . Amen.

Wissend, getrüwen, gliebtten brüder und heren in Christo, waa 5 mich nitt truckte der gross last und die schwär burde mins eygnen crützes und der minen, möcht ich üch wol rüwig lassen 6 , denn mir nitt zwyfflett, üch allen mitteinander ouch anbützt 7 sin von unserem truwen gott die hofffarb 8 (das crütz) der usserwelltten gottes. Desshalb ich üch billich onkümbrett liesse, waa ich nitt wüsde, das es sich

1 Utz (Ulrich) Eckstein, gest. 1558, stammte aus Esslingen am Neckar. Über seine Studien ist nichts bekannt. Schon früh kam er in die Schweiz. 1522 wird er als Frühmesser in Weesen (Kt. St. Gallen) erwähnt. Durch den hier wirkenden Pfarrer Georg Bünzli machte er die Bekanntschaft Zwinglis, für dessen reformatorisches Anliegen er sich nun als geistreicher und kämpferischer Publizist einsetzte. In den folgenden Jahren hielt sich Eckstein wohl in Zürich auf. 1527/28 war er Pfarrer in Thalwil (Kt. Zürich), von wo er im Dezember 1528 durch die Zürcher als Prädikant nach Rorschach (Kt. St. Gallen) gesandt wurde (Z IX 614,7f). Nach 1531 setzte in den äbtischen Gebieten die Rekatholisierung ein. Eckstein muß Rorschach im Frühjahr 1532 verlassen haben. Er wandte sich aller Wahrscheinlichkeit nach zuerst nach Konstanz (vgl. oben S. 244, Anm. 2 und Zwick an Bullinger, 10. März 1533, Zürich StA, E II 346,90). Ende März 1533 kam er nach Bern, wurde im April desselben Jahres von Froschauer nach Basel geschickt, war offenbar kurze Zeit in Murten tätig und kehrte im Oktober 1533 nach Zürich zurück. Hier wurde ihm im Sommer 1534 durch die Obrigkeit eine bescheidene finanzielle Hilfe gewährt. 1535 erhielt Eckstein die Stelle eines Diakons in Niederweningen (Kt. Zürich), wo er aber nur kurze Zeit gewirkt hat, wird er doch noch im selben Jahr als Pfarrer in Uster (Kt.
Zürich) genannt. Kurz vor seinem Tod trat er von dieser Stelle zurück (Zürich StA, Synodalakten, E II 1,464). —Lit.: Z XI Reg.; AZürcherRef 1056.1391; Salomon Vögelin, Utz Eckstein, in: JSG VII, 1882,91-264; Egli, Analecta I 132; Frida Humbel, Ulrich Zwingli und seine Reformation im Spiegel der gleichzeitigen, schweizerischen volkstümlichen Literatur, Leipzig 1912. — QASRG I, Reg.; Adrian Corrodi-Sulzer, Zu Utz Eckstein, in: Zwa IV 337-340; Oskar Vasella, Neues über Utz Eckstein, den Zürcher Pamphletisten, in: ZSKG XXX, 1936, 37-48; Zinsli, aaO, S. 366-373; HBLS II 778f; Pfarrerbuch 250; Hans Stricker, in: NDB IV 305f.
2 Ecksteins damaliger Aufenthaltsort ließ sich nicht ermitteln.
3 Da Eckstein aller Wahrscheinlichkeit nach erst im Herbst in Konstanz war (s. unten Zeile 15f und oben S. 244, Anm. 2), ist der Brief (im Gegensatz zur Annahme bei Zinsli, aaO, S. 369) wohl erst Ende 1532 geschrieben worden.
4 Vgl. 2 Petr 3,18.
5 wenn, sofern.
6 würde ich Euch gern in Ruhe lassen.
7 angenäht, angeheftet (SI IV 2032).
8 Hoffarbe. Eigentlich die Farbe eines Fürsten, die dieser die Personen seines Hofes tragen läßt. Dann auch als Zeichen der Zugehörigkeit und Untertänigkeit (Grimm IV/II 1666).


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zymbt, in schweche und kranckheytt von den sterckeren trost zfordern. Darum ich üch trülich und ernstlich bytt durch gottes willen, ir wellind mir raadtten, wie ich doch min sach one nachteyl gottes eren an dhand nemmen sölle; dann ich kan und mag in dharr 9 sölliche armutt und mangel an mir selb, an miner schwangeren husfrowen 10 , die all stund gnässends werttig 11 , und an sechs kinden nitt erliden. Waa man mir zKostentz nitt so truwloch und bruderlich gholffen, so hette ich langest ins ellend 12 müssen gon und wellte ouch gern darin; so mag 13 ich die kind nitt ertragen 14 , so mögend sy selb nit gon 15 . Zudem mag dfrow nyena hinkommen 16 , so bin ich a sust alltag selb kranck und buwfällig und weyss weder hindersich noch fursich zkummen. Wissend ouch, lieben bruder, ich bin on grose ursach von Roschach 17 nit komen, und ist das eine, ich han min narung nitt ghept; die gmeind wollt mir nutt geben, sy sagtend, der mich dahin thon 18 , sölt mich bsölden. Der sold was woll bstymbtt vom houptman 19 und rädten, man gab mir aber nütt, ja ich han müssen ein rock verkouffen in der thüre und um korn geben. Zu letst nam mir der miller 20 höw, dku 21 den kinden umm das sin 22 und billich 23 . Zum selben kam dess abtts vatter 24 mitt den sinen und durchsucht alles in mym huß und fand aber nütt. Daby verhafft 25 mir ouch der abtt allen schweyß 26 , und zu letst verkoufft man, was do was byß an zwey bett, die schickt man mir mitt wyb und kinden und soll 27 man mir noch an bstimbter competetz 28 25 gl., 17 mallter 29 korn. Da wirtt mir nymmer haller umm 30 , dann es sollt mir uss dem clostergutt geben worden sin. Das ist nun alls tod und ab.

Darum, mine lieben, getruwen brüder, radttend doch, wie ich min läben anfahe sölle. Ich bschem mich bettlentz 31 , so kann ich nit wercken, so mag ich wyb und kind nit verlan. In summa, der trüw gott welle fürston 32 , daß min fleysch nit thuge, darzu es lust hätte, wie woll der inner mensch uss gottes krafft fast kempfft und widerstaat. Aber die gross armutt truckt und trengt so hartt, daß ich kumm dem crützwind 33 widerston. Ist denn etwas trosts und ermanung by üch in diesem mym ellend, bytt ich üch durch gott, ir wellind uch nit sparen 34 , als ich üch denn truw,

a in der Vorlage irrtümlich ist.
9 auf die Dauer (SI II 1514).
10 Unbekannt.
11 die Geburt erwartet.
12 Ausland, Fremde (SI I 177).
13 doch kann.
14 erhalten (vgl. SI XIV 508).
15 auch können sie selbständig noch nicht gehen.
16 sich nirgendwohin, durchaus nicht entfernen (SI IV 761. III 280).
17 Rorschach.
18 an die Stelle gesetzt.
19 Jakob Frei, gest. 1531, der zur Zeit, als Eckstein die Rorschacher Pfarrstelle übernahm, Schirmhauptmann der Zürcher in St. Gallen war. Als solcher hatte er sich entscheidend für die Reformation in der Ostschweiz eingesetzt, s. Jacob 156-158 und Kurt Spillmann, Zwingli, Zürich und die Abtei St. Gallen, in: ZTB 86, 1966, S. 39-61.
20 Müller.
21 die Kuh.
22 für das Seine, um seine Ansprüche zu befriedigen.
23 zu Recht.
24 Hans Jakob Blarer von Wartensee, Obervogt von Rorschach 1515-1532, Vater des St. Galler Abtes Diethelm Blarer; s. Paul Staerkle, Die Obervögte von Rorschach, in: Rorschacher Njbl. 1951, 41. Jg., S. 26.
25 als Unterpfand beschlagnahmt (SI II 1062).
26 die Früchte all meiner harten Arbeit (vgl. SI IX 2216).
27 schuldet.
28 an fest bestimmten Einkünften (SI III 305).
29 1 Rorschacher Malter entsprach ca. 320 Litern.
30 Davon erhalte ich nie einen Heller.
31 ich schäme mich des Bettelns; Lk 16,3.
32 wolle verhindern, davorstehen.
33 der Sinn ist nicht ganz klar: entweder den Schmerzen, dem körperlichen Leiden (s. Grimm XIV/II 277) oder der Kreuzwinde, die auch als Folterinstrument gebraucht wurde (s. Grimm XIV/II 275).
34 nicht versagen.


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und mir als eym trostlosen radtten, wie ich im thun soll, damitt und ich bharr byß ans end und nach disem läben das ewig mit uch, mine gliebten brüdern, empfahe. Amen. Der barmhertzig gott verlihe üch allen mitt einander sin gnaad. Amen.

Huldrich Eckstein.

[Adresse auf der Rückseite:] An Meyster Heinrichen Bullingern und sine mitt arbeytter im wortt gotts Zürich, mine gliebtten brüder, H. E.