Heinrich-Bullinger-Briefwechseledition, Universität Zürich © Heinrich Bullinger-Stiftung Arpa Bibliothek Textbreite Schriftgröße

[2887]

Johannes Pincier
an Bullinger
Wetter,
24. April 1547

Autograph: Zürich StA, E II 359, 2817 (Siegelspur) Ungedruckt

[J] Seit Pincier in Zürich war, hat er sich oft gefragt, wie denn weitere Studenten aus seinem Umfeld mit der Lehre und Lebensweise der Zürcher vertraut gemacht werden könnten, damit einige von ihnen sich der Theologie widmen würden. Vielleicht ist Pincier noch zu jun g, um das gut beurteilen zu können, doch kennt er keinen anderen Ort, an dem die Wahrheit mit solcher Klarheit gelehrt wird wie in Zürich! Zudem haben die Zürcher einen unbescholtenen Lebenswandel und vorbildliche gute Sitten. Heutzutage sind bei den Theologen diese beiden Eigenschaften kaum noch zu finden, wo sie doch so dringend nötig wären für die Unterweisung des einfachen Volkes und für die Erziehung der Jugend! - [2] Diese jungen Leute [Johannes und Justus Vulteius] stammen aus [Wetter] wie Pincier und sind zudem mit ihm verwandt. Er hat sie überzeugen können, sich nach Zürich zu begeben. Dabei ist er ganz seinem Gewissen gefolgt. Da er die Sache eingefädelt hat, ist es auch. seine Aufgabe, die Zürcher zu bitten, diesen Studierenden einen Aufenthalt in ihrer Stadt und in der Schola Tigurina zu gewähren. Sie werden ihren Unterhalt aus eigener Tasche finanzieren. Man hat ihnen die Schulden, die die Zürcher Studenten in Marburg machten, gutgeschrieben, wie aus dem Brief von Wigand Happel [Nr. 2883] hervorgeht. Sie hoffen, dass sie in Zürich von Anfang an so viel verlangen dürfen, wie die [Zürcher Studierenden in Marburg]ausgegeben haben. Das wird hoffentlich auch den Zürchern recht sein, zumal ihnen dadurch eine Geldsendung in diesen unruhigen Zeiten erspart bleibt. - [3] Wegen der unsicheren Zustände konnten die Studierenden nicht viel Geld mitnehmen. Sollten sie also während ihres einjährigen Aufenthalts mehr Geld für ihre Ausbildung und ihren Lebensunterhalt brauchen, mögen die Zürcher es ihnen vorstrecken in der Gewissheit, dass sie es zurückerhalten. Es wäre zudem gut, wenn Pinciers Verwandte, Johannes und Justus Vulteius, bei einem Gelehrten, wohnen und mit diesem zusammen essen dürften, damit sie auch aus den täglichen Gesprächen etwas lernen können. -[4]In Latein und Griechisch sind sie ziemlich gut. Sie haben längere Zeit in Marburg, dann fast zwei Jahre in Straßburg und danach in Leipzig und Wittenberg studiert. So Gott will, kommen sie nun nach Zürich, und wenn sie dort auch noch die Grundlagen in Theologie und Hebräisch gelegt haben, wird ihnen wohl ein Weiterstudium in allen Fächern möglich sein. - [5] Bullinger möge Pinciers freimütige Bitte wohlwollend aufnehmen. -[6]Gruß, auch von Dietmar Fuhrmann, dem Vorsteher der Kirche in Wetter.

Salutem a deo. Posteaquam mihi semel perspecta fuit vestrae tum doctrinae tum vitae ratio, 1 non destiti mecum agitare animo, quonam pacto nostratium nonnullos, siqui vellem bonam operam theologiae navare, 2 vestrae disciplinae aliquando adiungerem. Quantum enim per aetatem 3 et iudicii imbecillitatem de rebus aestimare possum, nusquam vidi veritatis negotium maiori candore quam apud vos tractari. Deinde, si quis vitae sanctimoniam et

1 Pincier war 1543 für mehrere Monate studienhalber in Zürich gewesen; s. Nr. 2883, Anm. 3.
2 Offensichtlich war Pincier der Auffassung,
der Theologie dienlich sein zu können, indem er junge Leute zum Studium dieses Faches anregt.
3 Pincier war damals etwa 27 Jahre alt.


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integritatem morum spectet aut requirat, inveniet is sane ibidema, quod miretur atque cum laude imitetur, quae quidem duo, quam sunt hodie rara in theologis, tam necessaria eadem esse puto, non modo ad institutionem rudis plebeculae, verum etiam ad educationem iuventutis.

Quare, quum hisce iuvenibus 4 , et patria 5 et sanguine 6 mihi iunctis, ex animo consultum velle deberem, suasi, mehercle, nihil aliud, nisi quod mea conscientia mihi dictabat effecique, ut consilio meo acquiescant certis iustisque rationibus adducti. Quoniam igitur susceptae ad vos profectionis 7 autor illis fui, par est, ut pro virili rem coeptam exequar et, quocunque modo possum, a vobis impetrem, quo liceat ipsis cum bona venia et pace vestra in urbe et schola Tigurina 8 versari. Vivent omnes sua pecunia, prout convenit et decet. Receperunt in se aes alienum, quod contraxerunt vestri iuvenes 9 Marpurgi, sicut literae Vigandi Happelii ostendent, 10 idque fecerunt ea spe, ut, quamprimum ad vos venerint, tantundem repetant, quantum exposuerint 11 , in quo vobis etiam rem gratam facturos sperabant, ne videlicet in istis turbis et periculis cum aliquo discrimine mitteretis pecuniam. Sed hac de re mihi nullum est dubium.

Insuper, si quid opus fuerit meis consobrinis 12 intra anni spatium, quandoquidem modo non licuit illis tuto multum pecuniae secum ferre, rogo vehementer, ne propterea a vobis deserantur. Solvemus enim, quicquid apud vos impenderint in liberalem doctrinam et conversationem. Quapropter etiam maxime vellem, si res vestrae paterentur, ut consobrini mei, bannes 13 et

a Über der Zeile nachgetragen.
4 Gemeint sind die Brüder Johannes und Justus Vulteius; s. unten Z. 28f; und Nr. 2883, Anm. 1.
5 Pincier stammte wie die beiden Vulteius-Brüder aus Wetter in Hessen.
6 Siehe dazu unten Anm. 12.
7 Zur Reise s. Nr. 2896, Anm. 2.
8 Das Zürcher Lektorium für Theologie am Großmünster, auch "Prophezei" genannt.
9 Gemeint sind Johannes Fabricius (Schmid) Montanus, Hans Rudolf Funk, Heinrich Hindermann (Opisander) und Karl Schweninger: s. Nr. 2883, Anm. 5 und Anm. 6.
10 In Nr. 2883,4-13.
11 Subjektwechsel: Hier sind die Zürcher Studenten gemeint.
12 Ob "consobrini" hier im engeren Sinn des Wortes als "Cousins" zu verstehen ist, muss offen bleiben. Die Verwandtschaft der Brüder Vulteius mit Pincier geht auch aus einer auf das Jahr 1548 (ohne Monatsangabe) datierten und an Johannes Pincier gerichteten Widmung
von Justus Vulteius hervor, die dieser seiner in Basel 1549 erschienenen Übersetzung ins Lateinische von Schriften des Claudius Aelianus und des Herakleides Pontikos (VD16 A321) voranstellte. Feststeht, dass die Mutter der beiden Vulteius, Mecht(h)ilde Becker, die Witwe des Johannes Will (Wöll; gest. 1529), eine zweite Ehe mit einem Christian Pincier einging, dessen Verwandtschaftsgrad mit dem Schreiber des vorliegenden Briefes nicht genauer festgestellt werden konnte; s. Johann Philipp Kuchenbecker, Vita Hermanni Vulteii, Gießen 1731, S. 12; Beat Rudolf Jenny, Die Swiss-Connection und ihre Bedeutung für die Verbreitung von Agricolas Werk, in: Georgius Agricola. 500 Jahre, hg. y. Friedrich Naumann, Basel 1995, S. 328; "Marburger Professorenkatalog online" des "Archivs der Philipps-Universität Marburg" s.v. Vultejus, lustus" (ID = 6711).
13 Johannes Vulteius (Will(e), Wöhl), geb. 1527/28 zu Wetter in Hessen, gest. 1559


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lustus Vulteii, 14 domesticam consuetudinem et mensam quoque communem cum aliquo doctorum haberent, ubi et privato colloquio quotidie aliquid addiscerent. luvenes ipsi in Latinis et Graecis sunt mediocriter 16 instituti. Nam praeterquam quod Marpurgi diu studuerunt, 17 commorati sunt etiam Argentinae
zu Marburg, der ältere Bruder von Justus. Bis zu ihrem gemeinsamen Zürcher Studienaufenthalt hatten die beiden Brüder an denselben Orten studiert; s. unten Z. 32-35. Als Johannes (wohl etwa um die gleiche Zeit wie sein Bruder) Zürich verließ, begab er sich nach Hall am Inn (Tirol); s. S. 9f der von Kuchenbecker besorgten Ausgabe von der unten in Anm. 14 aufgeführten Schrift Antrechts. Zu einem unbekannten Zeitpunkt wurde Johannes Ratsherr in Marburg, wie es aus den von seinem Bruder auf ihn verfassten Epitaphien hervorgeht, aus denen ferner Johannes' Lebensdaten zu erschließen sind; s. Iusti Vulteii academiae Marpurgensis professoris poematum libri V, hg. y. Hermann Vulteius [Justus' Sohn], Marburg 1612, S. 420-423. Von Johannes ist nur ein Brief an Bullinger erhalten (Nr. 2896).
14 Justus Vulteius, geb. 1528/29 zu Wetter, gest. am 31. März 1575 zu Marburg. Die Ausbildungsstätten seiner Studienzeit werden unten Z. 32-35 angeführt. Nach seinem Zürcher Aufenthalt begab er sich vermutlich im Herbst 1547 (s. Nr. 2896, Anm. 2) nach Basel, wo er bei Oswald Myconius wohnte. Von dort reiste er 1548 (wohl zusammen mit Johannes Oporin) zur Frankfurter Herbstmesse, von wo aus Johannes Pincier ihm ein Studium in Paris organisierte. Dort befreundete er sich mit Ludwig Lavater, der allerdings Paris schon im Dezember 1548 verließ, während Justus dort noch Anfang 1550 nachgewiesen ist. Daraufhin begab er sich via Genf nach Lausanne, wo er höchstens ein paar Wochen verbrachte, ehe er nach Wetter zurückberufen wurde. Anfang 1550 heiratete er und übernahm die Leitung der Schule in Wetter. 1560 wurde er als Schulherr nach Marburg berufen, wo er seit 1562 Theologie und seit Juni 1572 auch Hebräisch unterrichtete. Von ihm ist nur ein Brief an Bullinger
erhalten (Nr. 2897). -Lit.: Johannes Antrecht, Oratio funebris in obitum Clarissimi doctissimi vin Iusti Vulteii, paedagogii Marpurgensis Rectoris et Hebraicae linguae Professoris ordinarii, Marburg 1575 (VD16 A2982) [diese Quelle wurde sowohl in Melchior Adam, Vitae Germanorum philosophorum, Frankfurt und Heidelberg 1615, S. 266-272, als auch im Anhang I von Johann Philipp Kuchenbecker, Vita Hermanni Vulteii, Gießen 1731, unter dem Titel "De vita et obitu Iusti Vulteii commentatio"nachgedruckt, wo auf S. 15f Einzelheiten zum Basler Aufenthalt zu finden sind]; Kuchenbecker, aaO, S. 11, Anm. f [wo der Tod von Justus' Vater, Johannes d.Ä., auf 1528 datiert wird, während Justus diesen in den zwei Epitaphien auf seinen Vater dem Jahr 1529 zuweist; s. Iusti Vulteii poematum libri V (wie oben Anm. 13), S. 418-420]; 13f, Anm. h [zu Justus' Lehrtätigkeit in Marburg]; 16f [zu Justus' Ehe]; Iusti Vulteii poematum libri V, 5. 428 [zu Justus' Anwesenheit in Paris 1550; die Gegenüberstellung dieser Angabe mit den Angaben auf S. 424f über den Tod von Justus' erster Tochter Catharina ermöglicht es, Justus' Hochzeit Anfang 1550 anzusetzen]; Strieder XVI 349-351; ADB XL 391-392; Karl Wenckebach, Zur Geschichte der Stadt, des Stiftes und der Kirche zu Wetter, Wetter 1966, S. 65-69; Friedel Schindler, Die Überlieferung der Strategemata des Polyainos, Wien 1973, S. 233, Anm. 79; S. 241f. - Porträt in Paul Freher, Theatrum Virorum Eruditione Clarorum, Nürnberg 1688, S. 1467.
15 Die beiden Vulteius-Brüder kamen beim Zürcher Schulherrn Johann Jakob Ammann unter; s. Nr. 2897,74.
16 Hier nicht nur als "mittelmäßig", sondern als "ziemlich gut" zu verstehen (wie es die Briefe Nr. 2896 und Nr. 2897 belegen), es sei denn, dass Pincier das Wörtchen


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in alterum usque annum, 18 deinde Lypsiam 19 et Witenbergam 20 profecti, tandem ad vos veniunt deo volente; ubi, quum theologiae et hebraicae linguae fundamenta iecerint, confido eis deinceps omnem studiorum suorum rationem fore faciliorem.

Haec ego tanto liberius antiqua fretus humanitate tua petere sum ausus. Rogo igitur, ne aegre feras.

Vale in Christo et nos ama! Salutat te una cum reliquis vins optimis atque doctissimis Decius Agricola 21 , antistes ecclesiae nostrae. Datum ex Veteribus Castris, 8. calendas maias anno 1547.

Johannes Pinzingerb tuus totus.

[Adresse auf der Rückseite:] Sanctissimo verae pietatis et religionis antistiti domino Heynricho Bullingero, Tigurinae ecclesiae ephoro vigilantissimo, domino ac praeceptori suo unice observando. 22

b In der Vorlage Piniznger oder Pintznger.
"non" vor dem Worte "mediocriter" vergaß, als er seinen Brief ins Reine schrieb.
17 In der Matrikel von Marburg findet sich der Eintrag von Johannes Vulteius unter dem Jahr 1541 ("Ioannes Wyll Wetteranus [Vulteius]") und von Justus Vulteius unter dem Jahr 1542 ("lustus Vuillius [= Wille] patria Vuetteranus"); s. M-Marburg II 11. 13.
18 In Straßburg sind sie tatsächlich im Collegium Praedicatorum für die Jahre 1545/46 nachgewiesen; s. Werner Westphal, Elèves et étudiants de la Haute-Ecole et de l'Académie de Strasbourg entre 1534 et 1621, Straßburg [ca. 1988] (Typoskript), s. 101.
19 Sie verließen Wetter im Juli 1546, begaben sich zunächst nach Erfurt und von dort nach Leipzig (s. Johannes Antrecht, De vita et obitu Iusti Vulteii commentatio, S. 12f des Anhangs lin: Johann Philipp
Kuchenbecker, Vita Hermanni Vulteii, Gießen 1731), wo sie sich allerdings nicht in den Matrikeln eintrugen. Dass sie in Leipzig vom Rhetorikprofessor Gottfried Sybott (Seibode) aus Battenberg (Hessen) aufgenommen wurden, wie dies in Kuchenbecker, aaO, S. 13, behauptet wird, ist fragwürdig. insofern dieser (so z.B. Ernst Gotthelf Gersdort Beitrag zur Geschichte der Universität Leipzig. Die Rectoren der Universität Leipzig, Leipzig 1869, S. 36, Nr. 246) bereits 1541 gestorben sein soll.
20 Sie ließen sich zwischen dem 13. und dem 15. August 1546 in der Wittenberger Matrikel eintragen; s. M-Wittenberg I 235b.
21 Dietmar Fuhrmann.
22 Vorliegender Brief wurde (wie auch die Briefe Nr. 2883 und Nr. 2889) von Johannes und Justus Vulteius übermittelt; s. oben Z. 11.