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Autographa: Zürich StA, E II 367, 196 (ohne Siegelspur) Ungedruckt
[J] Dem göttlichsten Mann, dein hochgelehrten Heinrich Bullinger, entbietet Justus Vulteius
(Thelontés) seinen Gruß. -[2] Gelehrter Mann, nichts Schrecklicheres könnte mir widerfahren,
als das Wohlwollen zu verlieren, vornehmlich dasjenige Gottes, dann aber auch dasjenige
rechtschaffener Menschen. Wenn ich jetzt mitansehe, dass ich bei Dir, bester Mann, nicht nur
als ein Schurke verleumdet, sondern auch noch als jemand bezeichnet werde, der die anderen
zu den schlimmsten Dingen verführt, so macht ,nich dies überaus zornig. Wie sollte sich
jemand auch nicht über derartige Lügen aufregen? Eine solche Verleumdung geht nämlich
wirklich über jedes Maß hinaus! Die einem edlen Mann angemessenen Wissenschaften - um
jetzt damit anzufangen -lagen mir immerfort am Herzen; nicht einmal meine Eltern konnten
mich von ihnen losreißen, obwohl sie es wollten. Ich sage dies nicht, weil ich genau wüsste,
dass Du in Wahrheit eine solch schlechte Meinung von uns hast, sondern weil ich nur gehört
habe, dass Du einen Verdacht gegen uns hegst. Denn ein anständiger junger Mann muss
einerseits großen Eifer auf das Gute verwenden, gleichzeitig aber auch die Dinge aus dem Weg
räumen, die seinem Ansehen schaden. Und ein auf Unwahrheiten beruhender Verdacht steht
dem Ansehen immer störend im Wege. Deshalb hielt ich es für unumgänglich, diese Verteidigung
zu schreiben. Unumgänglich ist jedenfalls auch das, was nützt. Und wird diese Verteidigung
nicht jedem von uns beiden Nutzen bringen, Dir ebenso wie mir? Dir, weil sie Dich von
Deinem Argwohn befreien und dafür sorgen wird, dass Du nichts Unwahres über uns denkst,
und mir, weil sie mir nach all den Verdächtigungen erneut Dein Wohlwollen sichern wird und
durch sie offenbar werden wird, dass die von den Feinden vorgebrachten Schmähungen unberechtigt
sind. -[3]Ich leugne nicht, dass ich mich in meinem Leben schon vieler Verfehlungen
schuldig gemacht habe. Dass dies aber auch bei sämtlichen Menschen um mich herum
der Fall ist, weißt Du selbst genau, so dass man wegen dieser ganz allgemein verbreiteten
Verfehlungen keine Anklage gegen mich erheben dürfte. Somit wäre es dringend erforderlich,
dass einige der von mir begangenen schlechten Handlungen besonders schwerwiegend sind.
Welche wirft man mir aber vor? Ich glaube, man wirft mir vor, mich Besäufnissen und Festmählern
hingegeben zu haben. Das aber dürfte jemand nicht einmal von mir denken, schließlich
habe ich bis zu meinem fünfzehnten Lebensjahr nicht vom Wein gekostet, sondern eine
derart lange Zeit nur Wasser und dergleichen getrunken. Ich kenne ja die aus der Trunkenheit
resultierenden Unglücksfälle: Menschen stecken von den Zech genossen Prügel ein, werden ins
Gefängnis gesperrt, fallen einem Mord zum Opfer oder werden ihrer Besitztümer beraubt, so
dass ich das Trinken begreiflicherweise verabscheue. Sollte es nun jemanden geben, der etwas
anderes bei mir beobachtet hat, werde ich unverzüglich einräumen, die schlimmsten Strafen zu
verdienen, wenn aber nicht, dann übernehme ich für derartige Dinge natürlich auch nicht die
Verantwortung. Genauso soll er auch das Folgende bedenken, das ich Dir auch vorher schon
deutlich machen wollte: Die Unmäßigkeit beim Weintrinken ist wohl die Ursache aller übrigenBriefe_Vol_20-187 arpa
Vergehen. Auch Cicero sagt: "Niemand tanzt, es sei denn, er ist betrunken."Meistens begehen
wir schlimme Taten nämlich bei getrübtem Verstand. Weibische und hirnlose Männer wie Attis
vernachlässigen die Redegabe und die Vernunft. — [4] lin Folgenden werde ich mich der
anderen Dinge wegen rechtfertigen. Vermutlich widme ich mich den ehrenhaften Studien noch
zu zögerlich und verschwende das, was auf die Wissenschaften hätte konzentriert werden
sollen, an Vergnügungen. Also geschieht heute das genaue Gegenteil meiner vormaligen Anstrengungen?
Denn bisher wurde ich von meinen Lehrern immer für meinen fast schon übermäßigen
schulischen Fleiß gelobt. Du wirst mir diese Äußerung nicht als Prahlerei auslegen,
sondern sie auf meine Zwangslage zurückführen. Denn ich sehe mich gezwungen, dies jetzt zu
sagen, nachdem ich mit einer derart gravierenden Anschuldigung konfrontiert worden bin.
Wenn Du möchtest, befrage doch meine Tischgenossen und die Menschen, die am häufigsten
mit mir zusammen sind. Jene wussten immer schon Bescheid. Sollten aber einige Leute mich
beneiden und ,nich aus Neid angeklagt haben, so bitte ich Dich, mir diese Denunzianten
einmal vorzustellen, so dass ich sie von Angesicht zu Angesicht anhören und mich verteidigen
kann. Ich schlafe morgens wirklich bis zur sechsten Stunde - oder ich bin vor Müdigkeit ganz
am Ende und nicht aufnahmefähig. Teils mache ich das, teils aber auch nicht. Ich liege
nämlich nicht dauernd im Tiefschlaf Manchmal memoriere ich auf dem Bett liegend auch
Herodians Geschichtswerk, manchmal andere Werke dieser Art. Mitunter schlafe ich aber
auch richtig. Ich sage das kurz und bündig, denn ich leugne nicht, was ich getan habe. Bevor
ich diesen Brief beende, möchte ich noch eines anfügen: Vielleicht glaubst Du, dass wir
abends unangemessene Lieder anstimmen. Ich versichere, dessen nicht schuldig zu sein, abgesehen
davon, dass ich zwei oder drei Psalmen gesungen habe, aber auch die nur mit zarter
Stimme, nicht so laut, dass einer der Leute draußen es hören konnte. — [5] Das sind die
Vorwürfe, gegen die ich mich verteidigen wollte. Ich wünsche mir von Dir, dass Du diesen
Brief mit Wohlwollen zur Kenntnis nimmst und nicht zornig wirst. Es war nämlich nötig, so zu
handeln, solange es möglich war, die Verleumdungen der Feinde noch rechtzeitig zurückzuweisen.
Dir aber bin ich überaus dankbar, dass Du Dich so fürsorglich um alle, die mit uns
zusammenleben, gekümmert hast. Noch mehr hätte ich mich aber gefreut, wenn Du auch mir
und meinem Bruder mitgeteilt hättest, was man uns jetzt zum Vorwurf macht. Wir glauben
nämlich nicht, dass wir weniger gut erzogen sind als die übrigen. Unsere Lehrer und Vorsteher
wollen wir in ähnlicher Weise respektieren und ehren, wie die anderen das tun. Leb wohl und
lass es Dir gut gehen. —[6] lustus Vulteius (Thelontés) bei [Johann Jakob]Ammann, Dein
stets gehorsamer Schüler.
Namen, der ursprünglich Will (bzw. Wöll oder Wöhl) lautete.
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[Adresse darunter:] Eruditissimo et pientissimo viro domino Heinricho Bullingero, patri et praeceptori suo imprimis colendo.
7 Johann Jakob Ammann.