Heinrich-Bullinger-Briefwechseledition, Universität Zürich © Heinrich Bullinger-Stiftung Arpa Bibliothek Textbreite Schriftgröße

[2901]

Oswald Myconius
an Bullinger
Basel,
16. Mai 1547

Autograph: Zürich ZB, Ms F 62, 392 (Siegelspur) Zusammenfassung: Henrich, Myconius BW 963, Nr. 1079

[J]Bullinger schweigt, und Myconius kann aus der Fülle der Nachrichten kaum eine Auswahl treffen! Die Lage ist vor allem, für die Eidgenossen katastrophal. In der gesamten [vorderösterreichischen] Umgebung freut man sich, dass durch den in Deutschland siegreichen Kaiser Karl V. das letzte Stündlein der überheblichen Eidgenossen geschlagen hat und diese nun den Preis für das allerorten vergossene Blut zahlen müssen. Es sei an der Zeit, dass der Kaiser sie demütige, denn sie hätten in Deutschland alle möglichen Übel bis hin zur Gotteslästerung eingeschleppt! -[2]Myconius treffen solche Äußerungen schi; zumal ja der Kaiser mit seinen Anhängern Uneinigkeit unter den Eidgenossen gestiftet hat und weiter schürt. Sie können ja

b Über der Zeile nachgetragen. -
c In der Vorlage tumultuario.
8 Anspielung auf die protestantischen Mächte, die nicht in den Krieg eingetreten waren.
9 Damit sind auch die Eidgenossen gemeint.
10 Anspielung auf Mt 10, 28; Joh 10, 28f; 11, 26; Röm 8, 35.
11 Gemeint ist Bartolomeo Del Pratos Brief Nr. 2874 vom 5. April.
12 Vorliegender Brief wurde zusammen mit Nr. 2874 aus Venedig abgesandt; s. oben Z. 22f.


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nicht vereint [dein Kaiser] entgegentreten, wenn sie im Glauben voneinander abweichen! Was soll werden, wenn der Herr nicht eingreift? - [3] Falls Bullinger klarer sieht, möge er Myconius die Augen offnen. Er wird sagen, dass man auf Gott vertrauen müsse. Richtig! Aber aufgrund der vielen Sünden und des Mangels an Rette wird kaum etwas von Gott zu erwarten sein. Niemand will es hören, wenn die Pfarrer zur Besserung aufrufen. Sie sind ja selbst nicht fehlerfrei! Myconius sieht das an sich selbst und kann daraus schließen, wie es um die anderen steht. Ja, Gottvertrauen ist wichtig, aber vor allein muss man einen besseren Lebenswandel pflegen und Gott stets um Hilft? und Eintracht bitten. Täte man dies, gäbe es keinen Grund, sich Sorgen wegen der Erfolge des Kaisers zu machen, auch wenn Myconius Frieden viel lieber wäre. - [4] Soweit nur dies, denn Johannes Wolf hat es eilig. Gruß, auch an Konrad Pellikan, Theodor Bibliander und Rudolf Gwalther, dem er geschrieben hätte, wenn er beizeiten von Wolfs Anwesenheit erfahren hätte.

S. Tu taces, 1 et mihi non est, quod scribam, non ob argumentorum inopiam, sed copiam potius, unde tamen seligere haud licet, quod velim. Misera sunt omnia et nos miseri cum primis! Nemo eorum, qui circum nos sunt 2 , non clamant a nune tandem finem instare caesare 3 perpetuo per Germaniam victore foederis superbi Helvetiorum; nunc talionem illos laturos effusi per totum orbem sanguinis! Et profecto, inquiunt, tempus est, ut insolentes istorum spiritus aliquando compescantur. Omnia mala induxerunt ipsi in Germaniam usque etiam ad blasphemias! Summa: Visitabuntur a Carob.

Haec dum audio, vehementer rne movent propter dissidia nostra, quae et ipse idem inter nos per suos fecit et usque bue fovit. Animi etenim non possunt esse uni, ut ita dicam, inter religione dissidentes. Nisi ergo dominus singulari de causa nobis adfuerit, quid futurum sit, non video.

Si tibi sunt hic meliores oculi, fac, quaeso, ut et ipse videam, quae sunt abscondita mihi. In domino confidamus, inquis. Bene, si peccata nostra permitterent. Scis, quam illa multa sint ac magna in omnibus nobis, quamque nulla sit poenitentia! Nos, qui praesumus verbo, dum instigamus ad emendationem, nemo audit, et ipsi nonnunquam labimur satis graviter. Novi, quid mihi accidat; unde divino, quid eveniat aliis etiam. At confidendum! Maxime sed et vita emendanda et jugiter precandum, ut deus nos respiciat, nobis parcat et reddat unanimes. Quod si obtinuerimus, caesaris felicitatem non moror admodum, quamvis pacem mallem.

Tantilla hec potui ob festinam Wolfii 4 abitionem. Vale in domino cum tuis, Pellicano, Theodoro 5 et Gvalthero, cui scripsissem, si novissem in tempore adesse Wolfium. Basileae, raptim 16. mali anno 1547.

Tuus Os. Myc.

a non clamant am Rande nachgetragen.
1 Daraus wird deutlich, dass Myconius zu diesem Zeitpunkt Bullingers Brief vom 18. Mai (Nr. 2903) noch nicht erhalten hatte. Bullinger entschuldigte sich darin für sein langes Schweigen.
2 Die Bewohner der vorderösterreichischen Gebiete um Basel.
3 Karl V.
4 Johannes Wolf, der sich immer wieder nach Basel begab.
5 Theodor Bibliander.


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[Adresse auf der Rückseite:] D. Heinricho Bullingero, viro doctissimo, ministro Christi optimo, domino suo in Christo observando.