Heinrich-Bullinger-Briefwechseledition, Universität Zürich © Heinrich Bullinger-Stiftung Arpa Bibliothek Textbreite Schriftgröße

[2911]

Oswald Myconius
an Bullinger
Basel,
25. Mai 1547

Autograph: Zürich ZB, Ms F 62, 394 (Siegelspur) Teildruck: CO XII 528, Nr. 911 Zusammenfassung: Henrich, Myconius BW 964f, Nr. 1081

[1]Als Myconius sich bei Konrad [Wolfhart] über Bullingers Schweigen beklagte, erfuhr er, dass dieser und Konrad Pellikan in ein Bad gereist sind. Möge diese Badekur Bullinger gut getan haben, damit er der Kirche noch lange dienen kann! -[2] Währenddessen vermisste Myconius Bullingers Briefe sehr, da er niemanden mehr hatte, der ihn aufklären konnte, als von allen Seiten schreckliche Nachrichten eintrafen. -[3]Johannes Haller informierte ebenfalls Myconius über die schlimme Lage in Augsburg. Auch von dessen Bruder Wolfgang erhielt er einen Brief durch den er erfuhr, dass Johannes das Evangelium in Augsburg unter großen Gefahren verkündigt. Der kaiserliche Oberst Bernhard von Schaumburg findet seine Predigten aufrührerisch und will ihn beseitigen. Warum. rufen ihn denn die Zürcher nicht zurück, ehe ihm etwas passiert? Die Obrigkeit, die sich beflejßigt, das Papsttum in Augsburg wieder einzuführen, wird ihn doch kaum in Schutz nehmen! Armes Augsburg, armes Schwaben und arme Eidgenossen, wenn Kaiser Karl V. so weitermacht! Hoffentlich stirbt er, ehe er Letztere angreifen kann! -[4]Nicht selten regt sich Myconius über die Erfolge des Kaisers auf Er weiß zwar schon, dass der Herr seine Kirche beschützen wird, doch versteht er Gottes Vorhaben nicht! Entweder will er sein Wort jenen entziehen, die sich undankbar erwiesen haben; oder hat er bereits durch die Verkündigung des Wortes die Seinen auserwählt; oder will er nicht, dass diese Auseinandersetzung durch die Waffen entschieden wird, damit die Ehre, die ihm gebührt, nicht den Menschen zuteilwird; oder haben die Pfarrer sein Wort nicht richtig verkündigt? Wie dem auch sei, sein Wille geschehe! In diesen Zeiten kann niemand seine Pläne ergründen. Es bleibt nichts anderes übrig, als alles von ihm zu erwarten, ihn anzuflehen und gehorsam zu sein. Wer dies tut, wird keinen Schaden an seiner Seele nehmen, auch wenn er sterben müsste. -[5]Bullinger soll wissen, dass Francisco de Enzinas ein höchst unbescholtener Mensch ist, der allerdings seine Meinung frei heraussagt. Wenn er einiges über [Valérand Poullain]geschrieben hat [mit Nr. 2898], dann deshalb, weil er guten Grund dazu hatte und Bullinger zum gleichen Schluss kommen würde, wenn [Poullain] in seiner Nähe lebte! Dieser [Poullain]hat zwar viele gute Seiten. Deshalb wurde er Myconius auch lieb. Doch ist er irgendwie verschlagen und unbesonnen, so dass Myconius ihn mit der Zeit immer weniger sympathisch findet. Er hat sich in große Schande gebracht, und es hätte noch schlimmer kommen können, wenn einige [Eherichter] nicht christlich, sondern nur rechtlich gegen ihn vorgegangen wären. Sollte er sich nicht in den Griff bekommen, wird er sich noch mehr Schaden zufügen, ja sogar wünschen, nie in Basel gewesen zu sein! Enzinas wollte also mit seinem freimütigen Brief Bullinger vor [Poullain] warnen. Dieser täuschte nämlich auch schon John Hooper, was Myconius umso mehr bedauert, als er diesen gelehrten und frommen Mann sehr schätzt. In Basel hinterließ er zusammen mit seiner inspirierenden Frau [Anne t'Serclaes] einen bleibenden Eindruck. Der Herr segne ihre Ehe! Bullinger soll beide von Myconius und seiner Frau [Margret]grüßen und die Schärfe von Enzinas' Schreiben entschuldigen. -[6]Verbürgte Neuigkeiten: Kurfürst Johann Friedrich von Sachsen wurde gefangen genommen, ebenso Ernst III. von Braunschweig-Grubenhagen. Der Kurfürst ist von der Lanze eines Husaren [Josef Luka] an der linken Wange verletzt worden. Seine drei Söhne [Johann Friedrich II. der Mittlere, Johann Wilhelm I. und Johann Friedrich III. der Jüngere] sind unversehrt und stellen in Gotha ein Heer von mindestens 26'000, wenn nicht 30'000 Mann auf -[7] Sicher ist auch, dass der Kaiser, der mit allen Kräften versucht, Wittenberg einzunehmen, schon dreimal zurückgeschlagen wurde und dabei schwere Verluste in Kauf nehmen musste. Der Feind hat der Stadt das Wasser abgegraben. Obwohl die Belagerten


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große Ängste ausstehen, wollen sie lieber für Christus sterben als sich schändlich ergeben oder vom Kaiser besiegt werden. Verbürgt ist auch, dass König Christian von Dänemark und die Hansestädte mit vereinten Kraften auf Wittenberg zueilen. Auch kommen ihnen Truppen aus Magdeburg zu Hilfe. - [8] Bremen wird nicht mehr belagert. Feststeht, dass Landgraf Philipp von Hessen ein Heer sammelt (was ja auch Bullinger schon mitteilte [in Nr. 2903]). Er soll bereits gegen einige Bischöfe unterwegs sein. Deshalb berief der Bischof von Würzburg, Melchior Zobel, seinen Adel und die ganze Landschaft ein. Auf dem Heimweg von Speyer [nach Reichenweier]begegnete Matthias Erb über vierhundert Soldaten, die alle dem Landgrafen entgegengingen. Schon öfters, und erst gestern wieder, wurde behauptet, dass der Kurfürst wieder auf freiem Fuß sei. Wie kommt es nur zu solch widersprüchlichen Meldungen? -[9]Gruße, auch an die Familie und an die Amtskollegen.

S. Utinam lavatio 1 tibi prosit ad sanitatem corporis, ut diu queas prodesse ecclesiæ domini! Ignoravi, quod lavisti, donec apud m. Chunhardum 2 conquestus, quod nihil scriberes, audiebam abiisse te una cum Pellicano nescio quo, ut lavares.

Interea nanque tot stupenda sunt ultro citroque narrata, ut te valde desiderarim ut cuius 3 literar semper hactenus me confirmarunt magis quam aliorum.

Hallerus scribit 4 et mihi vehementer deploranda de suis 5 , et nuperrime frater eius 6 , quod viveret et doceret Christum Auguste vehementer periculose. Dixisse enim capitaneum 7 illic summum: "luvenis iste concionatur seditiöse, quamobrem tollendus est!" Cur igitur non revocatis in tempore, priusquam damnum accipiat? 8 Revocandus est omnino, nisi magistratus 9 veut eum tueri; id quod tamen adeo procul abest ut fiat, quam prope est, ut omnia restituat papistica. 10 O misera Augusta! O misera Suevia! Sed et o miseros nos 11 , si caesar 12 perrexerit, ut coepit! Quamvis sperem prius periturum, quam contra nos eat aut ire possit.

Aliquoties hic graviter offendo. Quamquam enim dubium esse non potest, quin dominus ecclesiam sit protecturus, tamen dum cursum video felicitatis caesareanae (tametsi revera sit infelicitas), quid in animo habeat deus, haesitare soleo. Vel enim ob ingratitudinem nostram verbum suum ablaturus est ut ab indignis, vel per idem iam collegit, qui sunt eius, vel non vult, ut armis hic

1 Bullinger hielt sich vom 17. April bis 11. Mai im Bad zu Urdorf auf: s. Nr. 2886, Anm. 39.
2 Konrad Wolfhart, bei dem die Zürcher Studenten Josias Simler und Huldrych Zwingli d.J. wohnten.
3 quendam, cuius.
4 Dieser Brief ist nicht in Henrich, Myconius BW enthalten.
5 Damit sind die Augsburger gemeint.
6 Wolfgang Haller. - In einem nicht erhaltenen Brief.
7 Der kaiserliche Oberst Bernhard von Schaumburg. -Vgl. Nr. 2894,50-83.
8 Inzwischen hatte der Zürcher Rat Haller und (Hans) Thoman Rurnan (Römer) zurückgerufen; s. zuletzt Nr. 2908 und Anm. 1.
9 Der Augsburger Rat.
10 Vgl. auch Nr. 2908,3-15.
11 Die Eidgenossen. - Zu dieser Zeit entstand das Spottlied "O jr armen Schwaben", von dem sich eine Abschrift von unbekannter Hand in Bullingers Papieren befindet (Zürich ZB, Ms A 43, 437f).
12 Karl V.


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aliquid transigatur, ne gloria eius tribuatur hominibus, vel verbum misericorditer datum ei, qui presunt, non recte dispensant. Age vero, quicquid sit, faciat, quod bonum est coram ipso! Tempora etenim sunt talia, ut homo iudicare de eis nequeat. Itaque, dum consilia domini nescimus, 13 opus est, ut ab eo pendeamus toti et precemur fideliter et jugiter, ne nos derelinquat, et ambulemus in vus eius et inprimis timeamus eum. Ita si fecerimus, nemo vel corporibus pereuntibus nocebit animabus nostris.

De Dryandro 14 velim scias virum esse multo integerrimum, sed interim quoque liberrimum in dicendo et scribendo. Scripsit quaedam de quodam 15 profecto vere, id quod dicerem te experturum, nisi nobis quam tibi propius viveret. Habet ist a multa bona, quapropter ipsum diligo. Habet deinde nescio qualem astum (mihi videtur imprudentem) b , propter quem vilior mihi redditur in dies. Coniecit se illa imprudenti astutia in ingens dedecus et coniecisset in maius, nisi christiane magis quam iuridice voluissent quidam 16 agere contra ipsum, quamvis, nisi recte contra eat, fieri potest, ut adhuc se sit immersurus multis malis ut velle se Basileam nunquam vidisse posset. Adversus istum si liberius scripsit ad te Dryander, ob hanc causam factum scias, ne blanda specie tibi posset 17 illudere vel per alium. Nam et Hoppero 18 sic evenit; qua de re non semel apud me multa conquestus sum. Hunc enim diligo et veneror ob doctrinam et pietatem, qualem ego in vita erga me nunquam sum expertus! Proxime, dum hic erat, talem se exhibuit uxore 19 non tam consentiente quam impellente, ut eorum non queam oblivisci, quoad vixero. Dominus ei benedicat coniugio et tueatur et protegat. Hoc ex animo opto et marito et uxori multo piisimae, quorum memoria apud me erit aeterna in domino. Velim, ut eis ex me et uxore 20 multa bona dicas et Dryandrum de acerbitate habeas excusatum.

Nova nimium certa! Captus est elector 21 et cum eo Ernestus Brunschvicensis 22 ! Ab huserno 23 vulneratus cuspide per sinistram maxillam

a Über der Zeile nachgetragen. -
b Klammern ergänzt.
13 Vgl. Röm 11, 33.
14 Francisco de Enzinas.
15 Nämlich über Valérand Poullain mit seinem Brief an Bullinger vom 8. Mai (Nr. 2898). - Im Folgenden wird auf die Poullain-Affäre angespielt; s. Nr. 2898, Anm. 2.
16 Gemeint sind die Mitglieder des Basler Ehegerichts.
17 Subjekt ist Poullain.
18 John Hooper.
19 Anne t'Serclaes.
20 Margret, geb. [...].
21 Johann Friedrich I. von Sachsen. - Siehe dazu Nr. 2894.
22 Herzog Ernst III. von Braunschweig-Grubenhagen.
23 Der ungarische Husar Josef Luka; s. Nr. 2894, Anm. 20.


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adacta. Fuji omnes tres 24 salvi sunt, Gothae 25 nunc exercitum colligentes, ubi iam 30'000 fere, ad minus 26 millia hominum concurrerunt.

Witenbergam omnibus viribus oppugnat caesar. 26 Tertio iam repulsus grandi suorum iactura. Certum id est. Aqua oppidum perlabens ab hostibus intercepta est. Anguntur obsessi ad extremum, prius tamen morituri honeste et pro gloria Christi ala-|| v center quam se daturi turpiter aut pro nomine caesaris victuri dolenter. Certum est etiam de rege Daniae 27 urbibusque maritimis 28 , quod magnis praesidiis iunctis Witenbergam properent. Magdeburgi copiae similiter his accedunt.

Brema omni obsidione liberata est. 29 Landgravius 30 certo colligit exercitum, id quod tu quoque scripsisti. 31 Dicunt iam esse in itinere contra episcopos aliquos et Wirtzburgensem 32 vocasse suam nobilitatem et totam ditionem excitasse. Erbio 33 redeunti ex Spira plures occurrerunt milites quadringentis, qui omnes petebant landgravium. De liberato electore toties accepi et tam certo adhuc heri, ut mirer, undenam diversitas illa sermonum oriatur.

24 Die drei Söhne des Kurfürsten, Johann Friedrich II. der Mittlere (geb. 1529), Johann Wilhelm I. (geb. 1530) und Johann Friedrich III. der Jüngere (geb. 1538). Die beiden Älteren hatten an der Schlacht von Mühlberg teilgenommen (s. NDB X 530; ADB XIV 344; Nr. 2894, Anm. 21), während der gebrechliche Johann Friedrich III. mit der Mutter Sibylle, geh. von Jülich-Kleve-Berg, in Wittenberg blieb; s. ADB XIV 343.
25 Gotha (Thüringen). - Dorthin zog etwa Wilhelm von Thumshirn mit etwa 4'000 bis 5'000 Mann; s. Gottlob Egelhaaf Deutsche Geschichte im sechzehnten Jahrhundert bis zum Augsburger Religionsfrieden, Bd. 2 (1526-1555), S. 487; Moritz von Sachsen PK III 390, Nr. 549; 404f, Nr. 574; 419, Nr. 593.
26 Der Kaiser lag mit Truppen und Geschütz zwar bei Wittenberg. dessen Umgebung verwüstet wurde, doch blieb ein eigentlicher Angriff auf die gut befestigte, verteidigungsbereite Stadt aus. Am 23. Mai kam es zur Übergabe von Stadt und Festung an ihn; s. Friedrich Wentrup, Die Belagerung Wittenbergs im Jahr 1547. Nach den Quellen dargestellt, Wittenberg 1861, S. 1-6.
27 Christian III. von Dänemark.
28 die Hansestädte ("Seestädte").
29 Bremen hatte sich nach einer ersten kaiserlichen
Belagerung Ende März 1547 befreien können, wurde aber im April durch Herzog Erich II. von Braunschweig-Calenberg und Christoph von Wrisberg erneut belagert und zur Ergebung aufgefordert. Als protestantische Truppen den Bremern zu Hilfe kamen (s. dazu Nr. 2918, Anm. 18), gaben die Kaiserlichen die Belagerung auf und zogen diesen Truppen entgegen. Am 23. Mai kam es zu einer Schlacht bei Drakenburg (Lb. Nienburg/Weser), die die Protestanten für sich entschieden; s. Rudolf Hapke, Die Regierung Karl V. und der europäische Norden, Lübeck 1914, 5. 262- 281; Helmut Lucke, Bremen im Schmalkaldischen Bund. 1540-1547, Bremen 1955, S. 85-102.
30 Philipp von Hessen.
31 In Nr. 2903,21f.
32 Melchior Zobel, Bischof von Würzburg. -Aufgrund von Warnungen befürchtete er einen Angriff des Landgrafen auf sein Stift und ließ deshalb am 21. Mai 1547 seine Lehensleute und die Diener von Haus aus aufbieten; s. Christoph Bauer, Melchior Zobel von Giebelstadt, Fürstbischof von Würzburg (1544-1558), Münster 1998, S. 304.
33 Matthias Erb, Pfarrer in Reichenweier. - Dieser Brief ist nicht erhalten.


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Vale in domino cum domo tua cumque fratribus omnibus. Basileae, in die Urbani anno 1547.

Tuus Os. Myco.

[Adresse darunter:] D. Heinricho Bullingero doctissimo piissimoque, ministro Christi fidelissimo, fratri ac domino in domino venerando suo. Ti[guri]. c