Heinrich-Bullinger-Briefwechseledition, Universität Zürich © Heinrich Bullinger-Stiftung Arpa Bibliothek Textbreite Schriftgröße

[2979]

Leonhard Serin
an Bullinger
Ulm,
4. August 1547

Autograph: Zürich StA, E II 346, 212 (Siegelspur) Ungedruckt

[J] Wenn Serin sich seiner geringen Bedeutung und der großen Arbeitslast, die Bullinger zu bewältigen hat, nicht bewusst wäre, würde ihm dessen langes Schweigen zusetzen. Dennoch fragt er sich, ob er vielleicht etwas falsch gemacht hat, da Bullinger (der ja als erster Anlass zu ihrer Korrespondenz gab) so plötzlich, nicht mehr schreibt, oder ob diejenigen, die ihm den an ihn gerichteten Brief Bullingers [vom 4. September 1546 (HBBW XVII, Nr. 2565)] schon entsiegelt überreichten, ihm vielleicht nicht gewogen sind und ihn verleumden. Was Serin besonders zur letzten Frage veranlasst, ist die Tatsache, dass Bullinger ihm in jenem entsiegelten Brief eine Korrespondenz mit Johannes Haller in Aussicht stellte, er aber von diesem genauso wenig einen Brief erhalten hat, wie Letzterer von ihm. Dies sind allerdings nur Mutmaßungen, da Liebe nicht argwöhnen darf -[2]Mit dem vorliegenden Brief möchte aber Serin Bullinger hauptsächlich davon abhalten zu glauben, er hätte seine Abendmahlsauffassung geändert und hielte sich nun an die Vorschriften über das Abendmahl, die im neuen Ulmer "Handbüchlein" enthalten sind, falls Bullinger dieses (welches ohne Wissen des Ulmer Rates erschienen ist und - genauso wie im Falle des Ulmer Katechismus - nicht in allen Punkten mit den ersten Fassungen übereinstimmt) zu Gesicht bekommen sollte. -[3] Serin möchte zudem wissen, ob die Zürcher den lutherischen, fast halbpapistischen Brauch, den Sterbenden bei sich zu Hause das Abendmahl darzureichen, ohne einen besonders gewichtigen Grund tolerieren würden. Um nicht anmaßend zu erscheinen und etwas Falsches zu behaupten, traut er sich nämlich nicht, den Befürwortern dieses Brauches die Gepflogenheiten der reformierten Kirchen in Helvetien und in deren Nachbarschaft (wie etwa Kempten oder Augsburg) vor Augen zu fuhren. Von dem sonst schon zur Genüge mit wichtigeren Angelegenheiten beschäftigten Bullinger verlangt er keine ausführliche Abhandlung dazu, sondern nur eine kurze Antwort. -[4]Bullinger sei gegrüßt und möge weiterhin an Serin denken, auch wenn er nicht schreibt. Der Herr vereitle die Pläne der Feinde, leite die Zürcher und bewahre diese vor jeglichem Übel.

S. P. in domino. Esset mihi profecto difficile, optime Bullingere, tam diuturnum tuum silentium 1 aequanimiter ferre, nisi hanc meam indignationem

nicht sicher, ob er seine Gefangenschaft überleben würde; s. Moritz von Sachsen PK III 508, Nr. 728; 511, Nr. 734; 528, Nr. 751.
91 Vorliegender Brief wurde zusammen mit Hallers Briefen Nr. 2970 (29. Juli), Nr. 2972 und Nr. 2973 (vorn 31. Juli) durch
den Zürcher Stadtboten Andreas Müller nach Zürich befördert; s. oben Z. 1f und 56-58.
1 Serin hatte also noch keine Antwort auf seinen Brief vom 11. Januar 1547 (HBBW XIX, Nr. 2748) erhalten.


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restingueret iusta meae humilitatis tuorumque negotiorum consideratio. Neque tamen omnino obrepere mihi cessat cogitatio suspitioque talis: "Quid peccavisti, quod a scribendi officio (quod tu sane nunquarn fuisses ausus flagitare, sed ipse sponte suscepit 2 ) tarn subito destitit? Quid, si de te plus aequo essent commenti apud alios hii, qui resignatis illius ad te literis 3 prodiderunt? Qua erga te et illum religione tenerentur?" Atque huic posteriori cogitationi id etiam ansam praebuit, quod in resignatis illis literis spem mihi faciebas de commertio mihi cum Hallero futuro, 4 a quo etiam nihil omnino unquam accepi sicut nec ille a me quicquam. Sed sit suspicandi modus, ne chantas laedatur. 5

Hoc vero potius curabo, ne enchiridiis novis, ordinem administrationis sacramentariae, etc., continentibus, hoc anno sub nomine magistratus Ulmensis (dormiente quidem, nihil tamen eiusmodi somniante -hoc est ignorante illo) aeditis, movearis, ut meam me confessionem de sacramentis abnegavisse credas (si qua unquam in manus tuas pervenerint, quae primariis

2 Mit seinem ersten Brief an Bullinger (HBBW XV, Nr. 2217) vom 18. August 1545 dankte Serin nämlich für eine von Bullinger selbst initiierte Buchsendung (als Serin noch in Znaim lebte), der ein Brief beigelegt worden sein wird.
3 Diesem von Bullinger an Serin gerichteten Brief vom 4. September 1546 (HBBW XVII, Nr. 2565), dessen Siegel aufgebrochen wurde, ehe Serin ihn erhalten hatte (s. HBBW XVIII 23 1f), war Rudolf Gwalthers "Endtchrist" beigelegt. - Unter den hier nicht genannten lui befindet sich auch Martin Frecht.
4 Vgl. dazu HBBW XVII 400 und Anm. 4; vgl. HBBW XVIII 232 und Anm. 14.
5 In Anbetracht von 1Kor 13, 5.
6 Handbücher. - Diese Bezeichnung legt nahe, dass hier nicht die Ulmer Kirchenordnung vom 6. August 1531 (VD16 U58) gemeint ist, sondern das Ulmer "Handbüchlein" (die Ulmer "Agende") vom 27. September 1531. Verfasst wurde es von Konrad Sam und war (als Ergänzung zur Ulmer Kirchenordnung) für die Regelung der Liturgie bestimmt; s. Johann Caspar Funcke, Kurtzgefaßte Reformations-Historie, Ulm 1717, S. 711; EKO XVII/2 71. Davon sind drei Ausgaben bekannt: zwei undatierte (VD16 A767; ZV32042) vom Drucker Hans Gruner (Grüner), der nur bis 1532 druckte (s. Reske 934) und die demzufolge
1531 oder 1532 erschienen, und eine weitere (VD16 A768) Ausgabe vom Drucker Hans Varnier d.Ä. ("Forma und Agenda"), die genauso wenig wie die zwei anderen automatisch (nur wegen des vom 27. September 1531 datierten Vorwortes) dem Jahre 1531 zugewiesen werden darf. Vielmehr dürfte Varniers Druck mit dem hier von Serin erwähnten Neudruck aus dem Jahre 1547 identisch sein, was etliche Textänderungen bzw. Texterweiterungen gegenüber den Gruner-Ausgaben nahelegen (s. dazu unten Anm. 9). Dementsprechend sind auch die Datierungen des VD16 und die sich darauf beziehenden Angaben bei Reske 935 und EKO XVII/2 (wo die Texterweiterungen von 1547 übersehen wurden) zu berichtigen.
7 Im Ulmer "Handbüchlein" sind Formulare für Trauungen, Taufen, Abendmahlsgottesdienste, Frühgebete und Krankenbesuche enthalten.
8 Eine Pointe gegen die Ulmer Behörden, die Anfang 1547 Kaiser Karl V. gehuldigt hatten; s. HBBW XVIII 396, Anm. 9; XIX 72, Anm. 4; Alexandra Kess, "Lieber ehrlich sterben als 'ulmisch' leben": Zeitgenössische Stimmen zur Unterwerfung Ulms im Schmalkaldischen Krieg, in: Zeitschrift für Württembergische Landesgeschichte, Bd. 78, 2019. S. 167-200.


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illis 9 non per omnia conformia fuerint, sed eiusmodi metamorphosin 10 passa, cuiusmodi in evulgatione etiam catechismorum Ulmensium 11 saepius est depraehensa), aut putes me illis vel uti vel accomodare.

Altera huius meae epistolae causa est, quod quaero, num apud vos tolerabile judicetur pro more Luterano adeoque semipapistico cum decumbentibus, pauculos saltem dies (nec, Praeter communem, peculiarem aliam aliquam eximiamque causam) a habentibus, privatim coenae mysticae peragere sacrum. 12 Allegantibus 13 enim ecclesiarum reformatarum consuetudines Helveticarum illisque vicinarum, utpote Campidonensis 14 , Augustanae 15 , etc., iudicium et morem non audeo opponere, ne quid asseram temere. Ad hec si aliquando quam paucissimis responderis, me laborantem iuveris. Exactioa

a Klammern ergänzt.
9 Gemeint sind jene oben in Anm. 6 erwähnten, 1531 oder 1532 von Gruner gedruckten Ausgaben des "Handbüchleins. - Die von Hans Varnier 1547 besorgte Ausgabe (VD16 A768) weist vor allem in den Abschnitten über die Taufe und das Abendmahl, sowie auch in Bezug auf die Frage, ob man den Kranken das Abendmahl reichen solle, deutliche Unterschiede und Erweiterungen zu den früheren Fassungen auf. EKO XVII/2 veröffentlicht lediglich den Text des Exemplars Theol. 8 K 2113 der Württembergischen Landesbibliothek in Stuttgart (entsprechend VD16 A767); s. EKO XVII/2 163, Anm. a. In den früheren Fassungen von 1531 wird eine besondere Abendmahlsfeier bei den Kranken abgelehnt: "Ob aber der kranck begerte, des herrn nachtmal zu halten, soll man im sagen, es sey nit von nötten. Man hab auch weder schrifft noch exempel darumb ..." (EKO XVII/2 182). In Varniers Ausgabe (f. F7r./v.) aber wird diese nicht mehr kategorisch abgelehnt: "Ob aber der Kranck begerte des Herrn Nachtmal zu halten, soll man im das nicht stracks abschlagen, sonder in berichten auß eins Erbarn Raths Ordnung im Titel von Visitation oder heimsuchung der Krancken, do dann also geschriben stadt ... Jedoch wo sein [d.h. des Abendmahls]jemandt in der kranckheit bsonders begert ... mag man mit solchen das heilig Abentmal halten."
10 Veränderung (im Akkusativ).
11 Dieser Stelle zufolge kann nun gesagt werden, dass in Ulm bis zum Interim vermutlich
nicht nur Konrad Sams (Soins; gest. 1533) Katechismus von 1528 (VD16 S 1538), der immer wieder nachgedruckt wurde (Ulm 1536: VD16 S1539; Augsburg 1540: VD16 S1540; Ulm 1546: VD16 S 1541), benutzt wurde, wie es Weismann annahm (s. Christoph Weismann, Die Katechismen des Johannes Brenz, Bd. 1: Die Entstehungs-, Textund Wirkungsgeschichte, Berlin und New York 1900, S. 547; Bd. 2: Bibliographie 1528-2013, Berlin und Boston 2016, S. 1113f, Nr. F 24), sondern auch der von Johannes Brenz 1535 verfasste Katechismus zum Einsatz kam (wie schon Reu vermutete), ehe sich Letzterer nach dem Interim durchsetzte und 1554 von einem neuen Ulmer Katechismus im Brenzschen Sinne abgelöst wurde; s. Johann Michael Reu, Quellen zur Geschichte des Katechismus-Unterrichts, Bd. 1: Süddeutsche Katechismen, Gütersloh 1904, S. 290. 383-386; Weismann, aaO, S. 548. - Reu hat leider Sams Katechismus nicht veröffentlicht. Eine kritische Ausgabe, die die allmählichen Veränderungen von Sams Text berücksichtigt, wäre wünschenswert. 12 Vgl. dazu die oben Anm. 9 beschriebene Neuerung im Ulmer "Handbüchlein". 13 Nämlich den Befürwortern einer Abendmahlsfeier bei den Sterbenden.
14 Kempten im Allgäu.
15 In Augsburg wurde jedem Pfarrer freigestellt, ob er eine häusliche Abendmahlsfeier für Kranke abhalten würde oder nicht; s. HBBW XVIII 362,104-117.


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rem disputationem non flagito, ne sim molestus et gravioribus intentum interpellem inique.

Vale mei memor, etiamsi nihil scribis. Dominus omnia consilia hostium vestrorum mutet 16 vestraque dirigat, et conservet vos ab omnibus malis! 17 Iterum vale. Ulme, 4. augusti 47.

Leonhartus Söerinus.

[Adresse auf der Rückseite:] Clarissimo viro d. H. Bullingero, ecclesia Tigurinae episcopo de omnibus theologiæ candidatis optime merito, fratri in domino plurimum dilecto observandoque. Zürch.