Heinrich-Bullinger-Briefwechseledition, Universität Zürich © Heinrich Bullinger-Stiftung Arpa Bibliothek Textbreite Schriftgröße

[3012]

Joachim Vadian
an Bullinger
St. Gallen,
11. September 1547

Autograph: Zürich StA, E II 351, 53 (Siegelspur) Druck: Vadian BW VI 652f, Nr. 1561

[J] Vadian erhielt vor einigen Tagen einen Brief von Freunden aus Augsburg, in dem es um persönliche Angelegenheiten ging. Dem Schreiben war aber der Antrag Kaiser Karis V. beigelegt, in dein dieser seine Ziele für den von ihm einberufenen Reichstag dargelegt hat. 1 Während der ersten Sitzung des Reichstages las Maximilian 2 den Antrag so vor, als wäre er [die Muse]Kalliope selbst, lin Dokument wird die Fortführung des tridentinischen Konzils nur beiläufig angesprochen. Klar ist aber, dass der Kaiser versucht, die Deutschen um ihre Freiheiten zu bringen, und dabei herausfinden will, ob sie, die nun erschöpft und unterjocht sind, sich endlich mit den Irrlehren und mit [seiner] Verschwörungs[politik]zufriedengeben oder nicht. - [2] In Bezug auf das Kammergericht werden ganz tückische Maßnahmen vorgeschlagen. Damit verfolgt der Kaiser offensichtlich das Ziel, künftig alles nach seinem Wunsch zu gestalten. Er benutzt die durch den letzten Krieg verursachte katastrophale Lage, um die Deutschen dem Willen des Papstes und dessen Anhängern zu unterwerfen und sie dazu zu bringen, nicht nur jeglichen Gräuel 3 anzunehmen, sondern diesen sogar für heilig zu erklären und ihn der ganzen Welt unter Androhung grausamer Strafen aufzuzwingen, es sei denn, man wolle glauben, dass der Kaiser mit seinen ungerechten Vorschlägen die [Macht]herrlichkeit Spaniens anstrebt, um dann unter den Ständen des deutschen Reichs gerechte Zustände zu schaffen. 4 -[3]Gott kennt die Herzen der Menschen. Doch angesichts der jüngsten Ereignisse kann Vadian überall nur Intrigen und Verschwörungen im Dienste der kaiserlichen Zwangsherrschaft

c Die zweite Hälfte der Adresse fehlt, da der untere, wohl leergebliebene Teil des Blattes, auf dessen Rectoseite vorliegendes Brieflein abgeschrieben worden war, zur Wiederverwendung abgeschnitten wurde. Die Ergänzungen wurden in Anlehnung an zahlreiche frühere Briefe Blarers an Bullinger konjiziert.
1 Bullinger hatte diese "Propositiones" sowohl von Johannes Haller (in einer Kurzfassung) als auch auf anderem Weg (in einer ausführlicheren Fassung) erhalten; s. Nr. 3005,8-46 und Anm. 20.
2 Karls Neffe Maximilian, Erzherzog von Österreich, künftiger Kaiser.
3 Vgl. Dan 9, 27.
4 In der Vorlage: "nisi vero credendum, quod in proponendo iniquum petat lumen illud Hispanicum, ut demum apud status
aequum ferat." - Vgl. Quintilian, Institutio oratoria 4, 5, 16: Inicum petendum ut aecum feras. - Laut einigen damals verbreiteten Endzeiterwartungen glaubte man, dass der Endkaiser den Papst nicht unterstützen, sondern züchtigen würde. Dafür würde er seine Herrschaft über diejenige des Papstes behaupten, um dann auf Erden gerechte Zustände schaffen zu können.


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wahrnehmen. Es gilt nun abzuwarten, wie die Stände auf den Antrag des Kaisers reagieren werden, um zu erfahren, ob die Deutschen noch mutig sind oder nicht. -[4]Bullinger soll den beigelegten Antrag zurücksenden. In großer Eile. -[5][P.s...] Sobald Vadian über die Antwort der Stände etwas erfährt, wird er Bullinger auf dem Laufenden halten. Die Helvetier haben immer noch einen schlechten Ruf bei den Ständen. Man ist der Meinung, dass der Kaiser im Begriff ist, einen heimlichen Bund [mit den Ständen] zu schließen, wenn dies nicht bereits geschehen ist, wie Vadian es vermutet. Dann wird er Konstanz und die Helvetier angreifen. Der kranke Kaiser wurde zur ersten Sitzung des Reichstages getragen. Allerdings war seine Anwesenheit nicht von Bedeutung. Nicolas de Perrenot, Herr von Granvelle, ist die rechte Hand des Kaisers. 5