Heinrich-Bullinger-Briefwechseledition, Universität Zürich © Heinrich Bullinger-Stiftung Arpa Bibliothek Textbreite Schriftgröße

[3075]

Johann Leopold Frey
an Bullinger
Biel,
13. November 1547

Autograph: Zürich StA, E II 360, 437 (Siegelspur) Ungedruckt

[1]Frey hätte schon längst geschrieben, wenn er nicht auf Bullingers große Arbeitslast hätte Rücksicht nehmen wollen. Da aber weder zu erwarten noch zu erhoffen ist, dass Bullinger irgendwann nichts mehr zu tun haben würde, und da zudem eine Frage Frey keine Ruhe mehr lässt, bittet er Bullinger, sich doch die Zeit dafür zu nehmen, zumal dieser dies ja auch dann tun und ihm vermutlich noch mehr Zeit widmen würde, wenn beide sich darüber unterhielten. - [2] Hier in Kürze die Angelegenheit: Als Frey im Zuge seiner Arbeit an seinen "Loci communes" Genesis, Kapitel 29, durchging, fing er an, über die Ehen Jakobs nachzudenken und sich zu fragen, ob Jakob mit Recht (zumal das [später] von der Heiligen Schrift überlieferte Gesetz bereits in den Herzen der [Patriarchen, denen auch Jakob angehörte]eingeprägt war) seine Cousinen Lea und Rachel, die Töchter seines Onkels Laban, heiratete oder nicht. So zog er Leviticus 18 und Bullingers Abhandlung "Der christlich eestand" heran. Die erhoffte Antwort blieb aber aus, und er wurde umso unsicherer. Denn sowohl Leviticus als auch der sich darauf beziehende Bullinger verbieten die Ehe mit einer Nichte der [verstorbenen] Frau, wogegen Jakobs Ehe (nämlich die mit einer Cousine) nicht untersagt wird. Frey versuchte lange herauszufinden, ob eine solche Ehe vielleicht indirekt verboten würde, allerdings erfolglos (auch die Kollegen konnten ihm dabei nicht weiterhelfen). -[3]Als er diese Verwandtschaftsgrade vergleichend gegenüberstellte, um zu erforschen, ob vielleicht das Verbot, seine Nichte zu heiraten, sich durch eine engere Blutsverwandtschaft erklären würde, ais dies der Fall bei einer Ehe mit einer Cousine ist, gelangte er zu keiner Lösung, zumal im ersten Fall [nur]eine Verwandtschaft vorliegt, im zweiten Fall aber eine Blutsverwandtschaft, die ja eine noch stärkere Verbindung darstellt. Und vergleicht man die beiden Verwandtschaftsgrade miteinander, sind diese äquivalent: Im ersten Fall läuft die Verwandtschaft 1. durch die Ehefrau, 2. durch deren Schwester und 3. durch deren Tochter; in! zweiten Fall 1. durch die Mutter oder den Vater, 2. durch deren Bruder [oder Schwester] und 3. durch dessen Tochter [oder Sohn]. Im ersten Fall ist das Verwandtschaftsverhältnis absteigend, wenn auch nicht in direkter Linie; im zweiten Fall handelt es sich um eine sogenannte Seitenverwandtschaft. -[4]Da der Heilige Geist zweifelsohne die erforderlichen Ehegesetze durch Moses überlieferte (sei es explizit oder so, dass diese leicht abzuleiten wären) und dabei nichts Wichtiges vergessen haben kann, ist Frey nur deshalb ratios, weil er herausfinden will, wie dieses Problem zu lösen ist. Allerdings möchte er in Zusammenhang mit dieser vielleicht nebensächlichen Frage weder jemandem lästig fallen noch auf eine Antwort verzichten. Bullinger möge ihm gelegentlich seine Meinung dazu mitteilen. Denn auch wenn Frey genau weiß, dass diese Frage Bullinger lächerlich erscheinen wird, stört es ihn nicht, deswegen ausgelacht zu wer-

vielleicht Günzburg. Darin werden u.a. Nachrichten aus Augsburg übermittelt: Der Bischof von Trient, Cristoforo Madruzzo, soll Augsburg am 4. November [richtig: 6. November; s. NBD X 196] verlassen haben und von Kaiser Karl V. mit einer Mission beauftragt worden sein; Papst Paul III. wolle das Konzil nicht weiterführen, zumal er selbst befürchte, abgesetzt und durch König Ferdinand ersetzt zu werden; die Eidgenossen täten gut daran, zusammenzuhalten; 600 Reiter sollen in etwa "einer halben mail" vom Abfassungsort entfernt, u.a. in Langenau, Öllingen und Asselfingen, stationiert worden sein.
28 entstellen (vielleicht hier sogar als auslassen zu verstehen).


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den, solange er aufgeklärt wird! -[5]Grüße, auch von Freys Frau [...] und von allen Freunden. - [6] [P.S.:]Frey hat nun als Kostgänger den Sohn [...] von Heinrich Kammerer, der früher Vogt von Lenzburg war und jetzt Vogt im benachbarten Nidau ist. Er erinnert sich noch daran, dass, als er noch bei Bullinger wohnte, dieser den Vogt öfters einlud. Letzterer lässt auch herzlich grüßen.

Salutem a domino. Dudum, mi pater, ad te scripturus eram, quae nunc scribo, nisi semper mihi tuorum negociorum sarcina venisset ante oculos. Nunc, quoniam illorum finem nec video, nec spero, nec interim cesset ardor sciendi eius, quod quaeram, precor, ut animo benevolo attendas ac tantisper a tuis teipsum negociis distrahas, donec, quod rogo, me docueris, siquidem haud invitus id faceres, si praesens te, et fortassis pluribus, alloquerer.

Paucis accipe: Quum legerem et in locos communes 1 digererem caput Geneseos 29., in Jacobi connubia incidens mecum coepi cogitare (quum illi 2 , quam scripturae tradunt, legem cordibus habuerint insculptam) a , rectene an secus egerit Jacob, quod filias 3 patrui 4 sui duxit. Contuli Levit. 18. 5 et ea, quae in libello de matrimonio tu edidisti, 6 et quo magis me explicitum in sperabam, hoc magis implicitus subinde reddebar. Habet enim Leviticus sicut et tu ex illo: "Ne ducat vel habeat vir uxoris sue sororis filiam"7 ; verum quod Jacob fecit, non inhibetur (ut scilicet vir ducat vel patrui vel matertera vel etiam avunculi sui filiam). Quaesivi diu, si fortasse (ut loquuntur) implicite ista prohibentur, sed nec ego inveni, nec fratres mihi potuerunt indicare.

Hinc ego gradus istos sibi invicem opponens considerare volui, an fortassis prior ille ("Ne ducat vir uxoris suae sororis filiam") propius attingeret

a Dieses und das nächste Klammerpaar ergänzt.
1 Frey erstellte offenbar "Loci communes", d.h. eine Sammlung von Notizen zu theologischen Hauptbegriffen. In HBBW XIX 117 ist z.B. seine Beschäftigung mit dem Thema "Habgier"belegt.
2 Gemeint sind die Patriarchen (zu denen auch Jakob zählte), in deren Herzen (obwohl sie vor der Gesetzgebung durch Moses lebten) Gottes Gesetz bereits eingeprägt gewesen sein soll; vgl. Röm 4; Gal 3.
3 Lea und Rachel.
4 Laban. - Als Bruder von Jakobs Mutter Rebekka wäre er eher als "avunculus" zu bezeichnen.
5 Wo die verbotenen Geschlechtsbeziehungen aufgelistet werden, jedoch im Falle von Cousinen und Cousins nichts vorgeschrieben wird.
6 Gemeint ist Bullingers Schrift "Der christlich eestand", die 1540 zum ersten
Mal erschienen war (VD16 B9578). Zu einer Neuausgabe des Werks kam es erst 1548 (VD16 B9579).
7 In Lev 18 gibt es keinen solchen Text, allerdings könnte das Verbot aus Lev 18, 12-14 ("Turpitudinem sororis patris tui non discooperies, quia caro est patris tui. Turpitudinem sororis matris tuae non revelabis, eo quod caro sit matris tuae. Turpitudinem patrui tui non revelabis nec accedes ad uxorem eius, quae tibi affinitate coniungitur.") abgeleitet werden. Demzufolge folgert auch Bullinger (Der christlich eestand, Zürich 1540, f. Ciiij,r.), dass, wenn ein Mann nicht mit seiner Tante schlafen darf, dies auch für eine Frau und deren Onkel gilt, und demnach niemand (ob Mann oder Frau) mit seiner Nichte bzw. mit seinem Neffen eine Ehe eingehen darf.


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consanguinitatem quam hic: "Ne vir coniungat sibi patrui sui filiam."8 Non tamen ullo modo id assequor, narn prior ille est affinitatis, alter vero consanguinitatis, quae meo iudicio stringit arctius. Deinde si utrunque metiaris, aequo spacio virum circumstant: In illo est 1) uxor, 2) uxoris soror, 3) istius sororis filia; in hoc 1) mater vel pater, 2) huius frater, 3) fratris istius filia. Quo accedit, quod b primus ille gradus est in linea descendente, neque tamen directa, secundus autem lineae collateralis est (sic enim loquuntur) c .

lam cum non dubitem divinum spiritum per Mosem leges coniugii necessarias plene tradidisse (sive verbis apertis, sive ita, ut ex uno vel pluribus caetera facile per se sequantur), neque quicquam oblitum esse, quod necessarium sit, nihil aliud quam haereo et, quomodo ista explicari debeant, circumspecto, nec aliis libenter hac (ut fortasse est) frivola quaestione molestus nec etiam libenter solutionis ignarus. Tu, si vacat, tuam super hac re mihi sententiam communica, et quamvis non dubitem tibi ridiculam quaestiunculam fore, non tamen rideri gravabor, dummodo erudiri contingat. 9

Salutat te tuosque mea fidelissima, 10 necnon amici pariter omnes. Saluta nomine meo tuos. Vale felix. Biellnis, idibus d novembris e 1547. 11

Totus ex animo tuus To. Leopoldus Fry. f

Abo nunc filium Heinrychi Kammerarii 12 , praefecti quondam in arce Lentzburg, nunc in vicinia nostra Nydow, quem (curn apud te essern 13 ) saepius te invitasse memini. Is 14 te plurimum salvere iubet.

b Über der Zeile nachgetragen. -
c Dieses und das nächste Klammerpaar ergänzt. -
d Von Frey liber der gestrichenen Angabe 3. kalend. octobris (= 29. September) nachgetragen. -
e Die Monatsangabe novembris, die im Original anhand einer Abkürzung geschrieben wurde, scheint nachträglich auf der Zeile, zwischen dein durchgestrichenen Wort octobris und der Jahresangabe 1547, eingefügt worden zu sein. -
f Unter der Unterschrift verzeichnete Bullinger auf einer Zeile die Namen Isaac Rebecca Laban und auf einer Zeile darunter, unter dem Namen Rebeccas Iacob und unter dem Namen Labans Rahel.
8 Was nämlich Jakob tat, indem er seine Cousinen heiratete.
9 Bullinger versuchte, dieser Frage mit einer unzutreffenden Antwort auszuweichen; s. Nr. 3087,1-14. Den Grund dafür findet man aaO, Anm. 6. Auch in der 1548 erschienenen Ausgabe von Bullingers "Christlich Eestand" (s. dazu oben Anm. 6) wurde diesbezüglich nichts hinzugefügt oder geändert.
10 Freys Gattin ist namentlich unbekannt.
11 Wenn man die von Frey im Brieftext benutzte Handschrift mit derjenigen seiner Korrekturen (s. dazu oben Anm. d und Anm. e), seiner Unterschrift und seines Nachtrages vergleicht und zudem berücksichtigt, dass die jeweils von ihm ver-wendete
Feder anders gespitzt wurde, wird deutlich, dass Freys neue Datumsangabe und der ganze Briefschluss kaum vom gleichen Tag wie der übrige Brieftext sein können.
12 Heinrich Kam(m)erer (gest. kurz nach dem 21. April 1549) wurde 1531 Vogt von Aarburg; 1537 Vogt von Lenzburg; 1544 oder 1545 Berner Ratsherr; 1547 Vogt von Nidau; s. LL I 327; XI 28; XII 47: XIV 179; Heinrich Türler, Die Frau des Reformators [Berchtold] Haller, in: Blätter für bernische Geschichte, Kunst und Altertumskunde 3, 1907, S. 198f. - In Bullingers Briefwechsel kommt Kammerer nur an dieser Stelle vor. - Der hier erwähnte Sohn ist mit Vornamen unbekannt


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[Adresse auf der Rückseite:] Piissimo doctissimoque viro d. Heinrycho Bullingero, Tigurinae ecclesiæ vigilantissimo pastori, patri suo summe observando. Zürych.