Heinrich-Bullinger-Briefwechseledition, Universität Zürich © Heinrich Bullinger-Stiftung Arpa Bibliothek Textbreite Schriftgröße

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Matthias Erb
an Bullinger und Rudolf Gwalther
Reichenweier,
Freitag, 10. Februar 1548

Autograph: Zürich StA, F II 361, 160-160a (Siegelspur) a Ungedruckt

[1]Obwohl Erb selten schreibt und Bullinger und Gwalther fast nie zum Schreiben kommen (sie sind ja mit vielen kirchlichen und weltlichen Aufgaben beschäftigt), weiß Erb dennoch, dass das Unglück der von arglistigen Widersachern immer häufiger geplagten Kirche [der Herrschaft Reichenweier]den Zürchern wohl bekannt ist. Diese sollen unablässig beten, dass der Glaube [in der Grafschaft]nicht untergeht! -[2] Um die Kirche von Reichenweier steht es wie folgt: Während des [Basler Exils] von Graf Georg von Württemberg-Mömpelgard verkommt in der Herrschaft die christliche Lebensweise! Selbst die Vornehmen und die politischen Amtsträger pflegen einen völlig verdorbenen Lebenswandel: Sie suchen ihren Vorteil, verschließen die Augen vor den öffentlichen Schandtaten und bringen damit dem Wort Gottes eine so große Verachtung entgegen wie noch nie. -[3]Der Graf lebt in Basel und hat zu viele Sorgen, um auch noch diesen schlimmen Zuständen entgegen wirken zu können. Er wird sowohl von Kaiser Karl V als auch von seinem Bruder, Herzog Ulrich von Württemberg, schlecht behandelt. Ihm werden sogar vom Herzog die ihm zustehenden Auszahlungen aus seinem Herzogtum verweigert! Daran verzweifelt er beinahe (wie es bei Adligen üblich ist), da er denkt, dass es um ihn geschehen sei. Die feindlichen Habsburger im benachbarten Ensisheim verbreiten allerorts das Gerücht, dass sie über [die Herrschaft Reichenweier]herrschen werden. Sie wollen nichts von dem der Herrschaft geschuldeten Einkommenszehnten und sonstigen Zahlungen hören, zu denen sie verpflichtet wären. Und dabei handelt es sich nicht einmal um hohe Beträge! Und so kommt es, dass das Volk das Evangelium für dieses Ubel verantwortlich macht. -[4]Erb und seine Kollegen predigen mit aller Kraft dagegen, richten aber dabei kaum etwas aus. Kurz: Der Teufel ist Meister geworden. Das aber ist die Vergeltung für den Undank [gegenüber Gott]und den Mangel an Bußfertigkeit! Möge Gott die verdiente Strafe unverzüglich verhängen, damit die Frommen noch etwas ruhigere Zeiten erleben dürfen und das Evangelium [erneut]verehrt wird. Aber warum sich derart Sorgen machen? Es geschehe der Wille des Herrn! -[5]Den wenigen Pfarrer in Reichenweier wird Karl V. wohl den Untergang bringen. Aber sie werden selig sein, denn Gott ist mit ihnen. Jener aber ist zweifellos des Teufels! Das wird er [schon] merken. -[6]Es gibt viele Schmeichler, die meinen, dass der Kaiser in der Religionsangelegenheit richtig handeln wird. Sollen sie nur an ihren Kaiser glauben! Erb teilt diese Meinung nicht, denn er weiß, wie verschlagen Karl V. in der Vergangenheit vorgegangen ist. Für ihn und die Seinen ist Christus der einzige Erlöser. Und dieser hält das Herz des Kaisers in seiner Hand und kann es nach Belieben wenden. [Soviel zur Reichenweierer Kirche.] -[7]Der Bericht über die von Kardinal Cristoforo Madruzzo angeführte Gesandtschaft zu Papst Paul III. bezüglich des Trienter Konzils, die vom Kaiser und den Reichständen veranlasst wurde, wird den Zürcher wohl schon bekannt sein. Ebenso sicherlich auch die Antwort des Papstes und die vom Kaiser und den Reichsständen daraufhin gefassten Beschlüsse. Daraus

a Mit Schnittspuren.


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wird die Natur dieser Schmeichler offenkundig. -[8]Bucer wurde neben einigen anderen Predigern aus den Reichsstädten [nach Augsburg]berufen. Sie sollen dort in den strittigen Religionsfragen eine Einigung ausarbeiten, die so lange gültig sein soll, bis ein freies Konzil einberufen werden kann. -[9]Die Zürcher mögen für die Kirche [der Herrschaft Reichenweier]beten, damit dort weder Christus noch die Wahrheit preisgegeben werden. -[10]Grüße an Konrad Pellikan, Theodor Bibliander und die übrigen Pfarrkollegen samt deren Familien. Ebenfalls Grüße an Gerold Meyer von Knonau d.J., der seit seiner Abreise [aus Reichenweier]nichts mehr von sich hören lässt. Vielleicht wurde er zum Anhänger des Kaisers... Erneuter Gruß. In Eile. -[11][P.S.:]Eigenhändige Grüße von Oswald Fürstenlob und Nikolaus König. -[12]Der junge [Briefüberbringer], Bartholomäus [Hermann?] aus Magdeburg, der im letzten Jahr als Lehrer an der Schule in Hunaweier wirkte, sei den Zürchern empfohlen.

Gratia domini vobiscum. Tametsi ego raro vosque multis negotiis et ecclesiæ et reipublice nomine occupati fere unquam scribatis, scio tamen vobis ecclesiæ nostre adversitatem esse adeo cognitam (quam in dies magis ac magis malevolorum et versipellium insidiis mirifice agitetur), ut indesinenter pro nobis oretis, ne deficiat fides nostra. 1

Atque, ut sciatis, optimi vin et fratres in Christo observandissimi, quo in statu nostre sint res quibusque angamur maus, paucis hec accipite: Absente principe 2 omnis disciplina periit christiana! Proceres ipsi et quorum interest rempublicam gubernare, perversissime sunt vite hommes, sua querentes, ad publica conniventes flagitia. Deinde tantus contemptus est verbi etiam in tot adversis quam unquam.

Princeps agit Basilee nec hisce maus potest mederi ipse satis gravatus. 3 Impropitium 4 habet caesarem 5 , ne dicam et fratrem 6 , qui etiam ea, que ex ducatu illi debentur,

1 Angedeutet werden hier die seit der Ankunft von Herzog Christoph von Württemberg (dem Sohn Herzog Ulrichs von Württemberg) in Mömpelgard 1542 und besonders seit 1544 immer größer werdenden religiösen Streitigkeiten zwischen den neu eingeführten lutherisch gesinnten Pfarrern und den älteren, eher zwinglisch oder calvinistisch ausgerichteten Amtskollegen; s. dazu Viénot I 87-139; HBBW XIII-XVI, Reg. s.v. Mömpelgard und Pierre Toussain.
2 Graf Georg von Württemberg-Mömpelgard war, nachdem über ihn die Reichsacht verhängt worden war, etwa Mitte Januar 1547 von Reichenweier nach Basel geflohen; s. HBBW V, Nr. 650, Anm. 3; HBBW XX, Nr. 2943, Anm. 8. 3 Zu Verhandlungen, die Graf Georg zu dieser
Zeit mit dem Kaiser führte, ist nichts bekannt. Er selbst hatte Bullinger bereits am 4. Januar 1548 von seiner geschäftlichen Anwesenheit in Basel berichtet; s. Nr. 3105,1-4. -Neben seinen Geschäften pflegte Graf Georg in Basel zu jener Zeit eine Liebschaft, vermutlich mit der ehemaligen Nonne und damals bereits seit neun Jahren verwitweten Adelheid Bischoff; s. Gast, Tagebuch 304-307 mit Anm. 10.
4 Für böswillig; s. Hoven 265. -Möglicherweise war dies auch der Grund, weshalb Graf Georg die Aussöhnung mit dem Kaiser vehement ablehnte; s. Heinrich Rocholl, Herzog Georg von Württemberg und die Reformation im Ober-Elsaß, in: Kirchliche Monatsschrift 19, 1900, S. 571f.
5 Karl V.
6 Ulrich von Württemberg, der Bruder Graf


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solvere detrectat. Hinc ille foster 7 (ut sunt principum mores) animum despondet propemodum de se actum putans. Postremo finitimi domus Austriaci 8 adversarii ab Ensesheim 9 , etc., qui se nobis imperaturos ubivis gentium dissipant, omnia debita, decimas pro-||160v ventus, et quicquid nobis sub illorurn ditione debetur (tametsi non sit adeo plurimum) b , anathematizarunt ita, ut nemo illorum nostris deinceps sit a solvendo. Atque ita fit, ut vulgus suo more huius mali euangelion insimulet.

Nos interim ad rauzim usque clamamus 10 , parum tarnen promoventes, monemus, obiurgamus, solamur parum proficientes. Summa: der teuffel ist bey uns gar meister worden. Verum hec est retalio 11 ingratitudinis et impoenitentiae, etc. Hoc oro, si deo ita visum esset, ut meritarn poenam statim irrogaret atque pii tandem viderent etiam aliquantulum tranquilliora tempora, quo evangelii gloria latius propagaretur. Verum quid sollicitor? Fiat domini voluntas!

Nos fratres hic expectamus caesarem, tametsi pauci simus, ut nos devoret. Erimus ter quaterque beati. 12 Vident 13 ipse. Nam deus nobiscum. Quis Satanam cum illo esse dubitat?

Plures sunt palpones, qui putant caesarem religioni recte consulturum, quibus non subscribo, cum sciam, quibus fucis hactenus egerit. Habeant ergo ii suum caesarem, nobis Christus sit unica salus, qui ||160a r. cor caesaris habet in manu sua et, quocunque voluerit, vertet illud. 14

Acta apud papam c,15 de concilio Tridentino per Christophorum cardinalem, legatione fungentem nomine caesaris et statuum imperii, et responsum pape, item et deliberationem caesaris et statuum, ni fallor, habetis. Illic licet vobis videre adulatorum mores, etc.

Bucerus vocatus est cum quibusdam aliis imperialium civitatum concionatoribus, 16 ut consultent de communi pace in religione habenda, dum liceat caesari liberum convocare concilium.

b Klammern ergänzt. -
c In der Vorlage wurde eine Abkürzung für papas (und nicht für papam) benutzt.
Georgs. -Tatsächlich war es wohl aber Christoph, der Sohn des württembergischen Herzogs, der nachweislich Zahlungen aus der Kasse der Grafschaft Mömpelgard an seinen Onkel, Graf Georg, verzögerte; s. Christoph Friedrich von Stälin, Wirtembergische Geschichte, Teil 4: Schwaben und Südfranken, Stuttgart 1873, S. 490. 7 Graf Georg.
8 domus Austriaci: vom Stammhause des Österreichers [Ferdinand I.] (=habsburgischen). 9 Ensisheim war Sitz der vorderösterreichischen Regierung; s. Territorien des Reichs V 257.
10 ad rauzim usque clamamus: wir schreien uns heiser; s. Neues und ausführliches Dictionarium

oder Wörter-Buch in dreyen Sprachen, Genf 1718, S. 165 s.v. "sich heiser schreyen".

13 Vergeltung; s. Hoven 481.
12 ter quaterque beati: Vergil, Aeneis, 1, 94.
13 Subjekt ist Karl V.
14 Vgl. Spr 21, 1.
15 Paul III. - Karl V. hatte seinen Gesandten Kardinal Cristoforo Madruzzo, Bischof von Trient, zum Papst nach Rom geschickt, um über die Rückverlegung und Weiterführung des Trienter Konzils sowie auch über weitere diesbezügliche Forderungen zu verhandeln; s. Nr. 3108,5-8 sowie zuletzt Nr. 3118,50-57.
16 Zu Martin Bucers Berufung und Aufenthalt in Augsburg s. Nr. 3120, Anm. 20. - Der


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Orate pro nobis, vin sanctissimi, et pro ecclesia nostra, ne Christus et veritas succumbat in tentationibus. Amen.

Salutabis Pellicanum, Bibliandrum ac reliquos symmystas vestros in Christo Jesu cum familiis vestris, item Geroldum 17 nostrum, qui a discessu nihil scripsit, forte factus caesareanus. 18 Valete in Christo Jesu domino nostro. Amen. Raptissime. Richenville, 10. die februarii 1548. Vester Erbius.

Vos salutant d Oswaldus Furstenlob 19 mit aigener meiner hanndt, d e Nicolaus Regius e 20 .

d-d Von der Hand des Oswald Fürstenlob. -
e-e Von der Hand des Nikolaus König.
Ausschuss, der von Karl V. einberufen worden war, um eine Übergangslösung (das sogenannte Interim) für die Religionsstreitigkeiten im Reich zu finden, bestand aus den folgenden sechzehn Mitgliedern aus den Reichsfürstentümern und -städten: Erzbischof von Mainz Sebastian von Heusenstamm (Präsident), Heinrich Has, Georg Siegmund Seld, Gaudenz Madruzzo, Michael Helding, Eberhard Billick, Johann von der Leyen, Ludwig Fachs, Wolf von Affenstein, Eustachius von Schlieben, Heinrich Mann, Leonhard von Eck, Gerwig Blarer von Wartensee, Graf Hugo von Montfort, Jakob Sturm und Georg Besserer. Der Ausschuss konstituierte sich am 10. Februar 1548 und wurde bereits zehn Tage später zum letzten Mal von Karl V. einberufen, ohne jedoch eine Einigung zu erzielen. Der Kaiser, der das Scheitern des Ausschusses vermutlich kommen sah, hatte wohl bereits im Januar insgeheim mit Julius Pflug, Michael Helding und Johann Agricola eine dreiköpfige Interimskommission eingesetzt, die später um Domingo und Pedro de Soto, Pedro de Malvenda und Heinrich Muelich erweitert wurde. Diese Kommission erarbeitete den ersten Entwurf des Interims, den Karl V. bereits am 15. März 1548 den Kurfürsten Friedrich II. von der Pfalz und Joachim II. von Brandenburg vorlegen konnte; s. HBBW XX, Nr. 2908, Anm. 7; Nr. 3094,19-23 mit
Anm. 14; Rolf Decot, Die Reaktion der katholischen Kirche auf das Interim, in: Das Interim von 1548/1550. Herrschaftskrise und Glaubenskonflikt, hg. y. Luise Schorn-Schütte, Heidelberg 2005, S. 371 mit Anm. 16; RTAJR XVIII/2 JR XVIII/2 1743-1751, Nr. 181; Rabe, Interim 55 mit Anm. 150. 63-65; Rabe, Reichsbund 418f mit Anm. 49. 423-426; zu Agricola s. auch HBBW IV, Nr. 424, Anm. 57. -Philipp Melanchthon aus Wittenberg und Johannes Brenz aus Schwäbisch-Hall wurden ebenfalls einbestellt, folgten der kaiserlichen Einladung allerdings nicht; s. Nr. 3120, Anm. 19. -Zum Interim s. zuletzt Nr. 3113,7-12 mit Anm. 5.
17 Gerold Meyer von Knonau d.J., der 1545/46 eine Lehre als Schreiber in Reichenweier absolviert hatte und unter besonderer Fürsorge Erbs stand; s. HBBW XX, Nr. 3098, Anm. 8. -Über seine weitere Tätigkeit ist nichts bekannt. Er heiratete am 29. Januar 1554 Dorothea, die Tochter von Hans Konrad Escher von Luchs und verstarb am 9. November 1561; s. HB-Fam.-Chron., 53, 817-819 und Anm. 68f.
18 Wohl scherzhaft zu verstehen.
19 Oswald Fürstenlob, Stadtschreiber von Reichenweier; s. HBBW XIV 357, Anm. 23.
20 Nikolaus König (Regius), Pfarrer in Hunaweier (Herrschaft Reichenweier); s. HBBW V, Nr. 650, Anm. 6.


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Hunc adolescentem Bartholomeum 21 Magdeburgensem priori anno schole Hunnenvilensis pedotribe 22 vobis commendamus, etc.

[Adresse auf der Rückseite:] Eximiis vins d. Henrycho Bullingero et Rudolpho Gvaltero, ecclesiastis Tigurinis vigilantissimis, fratribus in Christo observandis. 23