Heinrich-Bullinger-Briefwechseledition, Universität Zürich © Heinrich Bullinger-Stiftung Arpa Bibliothek Textbreite Schriftgröße

[321]

Berchtold Haller an
Bullinger
[Bern],
31. Januar 1534

Autograph: Zürich StA, E II 360, 7 (Siegelspur) Ungedruckt

Berichtet über die internen Schwierigkeiten in Bern: Seckelmeister [Bernhard]Tillmann wurde vom Rat ausgeschlossen, weil er reformierte Flüchtlinge aus Solothurn ohne Anweisungen aus Bern mit Drohungen entmutigt und zur Aufgabe des Widerstandes überredet hatte. Venner [Niklaus von]Graffenried nahm 10 Kronen Bestechungsgeld an und verlor daraufhin seine Ratsstelle und seine Ehre. Schultheiß [Hans] von Erlach wies ein gleiches Angebot entschieden zurück; man spricht von weiteren Korruptionsfällen.

9 als allgemeines Gerücht, gerüchteweise (SI IV 361).
10 müsse.
11 nennen.
12 päpstische.
13 Bern hatte sich seit Oktober 1533 aufgerüstet, da es einen Angriff der V Orte, Freiburgs und des Wallis erwartete (s. Mathias Sulser, Der Stadtschreiber Peter Cyro und die Bernische Kanzlei zur Zeit der Reformation, Bern 1922, S. 43-46). Der Abschluß des Sonderbundes der V Orte mit dem Wallis und Freiburg, dem am 5. Januar auch Solothurn beitrat, nährte solche Befürchtungen (s. Amiet/Sigrist II 45). Die Gerüchte um den Zusammenzug eines «wälschen Heeres» durch die V Orte und damit die Angst vor dem Revanchismus gegen den reformierten
Glauben hatten sich um die Jahreswende verdichtet (s. EA IV/IC 260f b-d. 270 e und zu e).
14 Vgl. I Petr 5, 8 und Apk 3, 3.
15 Feind.
16 uneins.
17 Durch die Initiative Basels als Vermittler waren bereits seit Dezember 1533 Einigungsbestrebungen zwischen Zürich und Bern im Gange (s. Rudolf, Aussöhnungsversuch 511-519; vgl. auch HBBW III, Nr. 304, 306 und 310).
18 lasse.
19 jemand.
20 Lassen wir.
21 Siehe Mt 11, 28.
22 (irgend) etwas Gutes.
23 erfahren (vgl. SI III 1384).
24 tut es.


Briefe_Vol_04_0054arpa

Haller bedauert, daß sogar überzeugte Anhänger der Reformation dieser Versuchung des fremden Geldes nicht widerstehen konnten, weil dadurch die Stellung der Evangelischen in Bern geschwächt wurde. Der Grund der Bestechungsversuche: [Philibert de Compois,]Herr von Thorens, der vier Schlösser an einen Gegner verloren hatte, versuchte das Berner Bürgerrecht und die Unterstützung Berns zu erlangen, was sein Rivale durch Geldgeschenke zu verhindern trachtete. Am 22. Februar soll in Bern eine Zusammenkunft der reformierten Orte, wahrscheinlich in der solothurnischen Angelegenheit, stattfinden. Haller ist krank gewesen. Er bittet um die Zusendung von Nachschriften von Theodor [Biblianders] Vorlesungen über die Propheten, von [Pellikans]Prophetenkommentar, Vadians «Epitome» und Bullingers Korintherkommentar. Bittet Bullinger, seine vorausgegangenen Briefe zu beantworten.

Gratiam et pacem a domino.

Non dubito, quin varii apud vos de nostrae reipublicae turbatione 1 rumores ferantur, charissime frater. Proinde nolui te diutius suspendere, quantumvis infecta adhuc sint omnia, ut plane vereor. Sic sese res habent: Questor noster Tilemannus ab officio, cui iam sex annis praefuit, amotus est, et cum Salodorenses in negotio verbi dei, utcunque polliciti erant omnium Pagorum 2 legatis, nihil audire nec tractari voluerint a nostris amandarintque verbi ministros 25 3 -ipseque questor minis quibusdam nostrae partis animos fregerat, ut caetum solverent, atque id citra magistratus nostri commissionem, quod mali omnis causam interpretantur -, 25. ianuarii ab utroque senatu amotus est 4 et in pristinam sortem redactus, qui tamen vix secundum habet prudentia et eloquentia illi [ad] sufficiendum. Hae autem fuerunt minae, quas effudit erga evangelicos Salodorenses agro nostro congregatos 5 : «Ir werdend üch in die straff umm der uffrur ergäben oder ir werdent fründ ze fyenden machen.» Secundo: «Ir werdend den friden oder anstand 6 annämen, doch dem globen on nachteil und gar nüt vertädinget 7 , oder wo irs nitt thätind, wurdint üch min herren ab irem ertrich wysen.» Addidit: «Das red ich für mich selb, min herren hend mirs nitt befolhen.» Ab iis cum se purgare non potuerit et senatui utrique satisfacere, hett man inn heissen der räten und burgeren stillston 8 .

30. huius mensis capto quodam a Gryers 9 bandaretus Grafenried 10 , vir

1 Gemeint sind die Ereignisse um Tillmann und die Bestechungsaffäre, über die Haller anschließend berichtet.
2 der V Orte.
3 Zur Rekatholisierung des solothurnischen Gebietes nach dem Aufstand der Reformierten 1533 s. Haefliger 198. 200f und Amiet/Sigrist II 45; vgl. auch HBBW III 276, Anm. 17.
4 Bernhard Tillmann.
5 Gemeint sind die auf bernisches Gebiet geflüchteten Solothurner Reformierten; vgl. Haefliger 198 und Amiet/Sigrist II 45.
6 Der Vertrag vom 16. November 1533, den die eidgenössischen Schiedboten ausgehandelt hatten; s. Haefliger 198.
7 abgemacht, vereinbart (SI XII 451f). - Über den Glauben bestimmte der Vertrag nichts.
8 wurde im Amte eingestellt, suspendiert (SI XI 731). - Zum Ausschluß Tillmanns aus dem Berner Rat s. HBBW III 276, 62f
und Tillier III 318; vgl. auch unten S. 71, 15f und Anm. 15; S. 128, 4f und Anm. 3.
9 Im Auftrag des «jungen Grafen von Greyerz, Herrn zu Aubonne» [Michael, Sohn des regierenden Johann II. von Greyerz] versuchte der Kastellan von Aigremont einflußreiche Berner zu bestechen. Des Kastellans Gefangennahme und Geständnisse brachten die Affäre am 30. Januar vor den Großen Rat (s. Anshelm VI 192f; Tillier III 314-316). Zu den Bestechungsgründen vgl. unten Z. 42-50.
10 Niklaus von Graffenried, geb. 1468 oder 1469 (nach Anshelm VI 193 und Tillier III 315 stand er am 22. April 1538 im 70. Lebensjahr), gest. 1557, stammte aus altem patrizischem Geschlecht der Stadt Bern. Er kam 1489 in den Großen, 1495 in den Kleinen Rat, wurde im selben Jahr Vogt zu Schenkenberg, 1509 zu Aigle. Graffenried


Briefe_Vol_04_0055arpa

aetate et senecta venerandus ac supra modum dives, in asylum fugit 11 , quod ab eodem a Gryers uxor 12 pro munere acceperat 10 coronatos. Huic cum data esset libertas se excusandi coram diacosiis presenter - noluit forte sibi timens -, non solum a senatu et civibus amotus est, sed infamis habitus, cui nulla unquam fides sit habenda 13 . Obtulerat idem a Gryers totidem coronatos consuli ab Erlach 14 , at ille pro sua integritate et fide sic nebulonem abegit a se, ut amplius corruptionem hanc non attentaret 15 . Fertur adhuc alium quempiam apertas ad hec munera habuisse manus et senatorii ordinis non infimum, id quod dum apertum fuerit, rescies 16 . Tam misere et egre se nostra habet respublica, et dum videmus eos, et quidem ditissimos, tam modico munere corrumpi, eos item, qui verbi dei olim columnas se praestabant et omnia, quae ad religionem pertinent, promoverunt maxime, sic ab officiis et senatorio ordine excludi, quid de iis, qui pauperes sunt, qui item vel imprudentes vel pontificii sunt, cogitandum? Duos e senatu ad praefecturas hoc anno delegerunt, viros pios 17 . Questor et bandaretus amoti, necdum finis. Delectus inter cives non est abundans. Aut iuvenes a et rerum inexperti aut pontificii illis sufficiendi erunt. Sic semper periclitabitur pax publica et religio. Ad haec facile coniecturare poteris in huiusmodi tragediis domesticis animos multorum etiam iunctissimos disiungi, ut nemo iam alteri fidere ausit aut velit. Plebs sane firmissima verbo adheret et mala vult punita. Urget senatum. Sed plebis ingenium et mores nemo non ignorat. Ut autem intelligas, cur pecuniae erogatae sint: Est quidam nobilis, pius vir, nomine der herre von Torin 18 , sitzt hinderm hertzogen 19 von Saffoy 20 ; dem sind 4 schlösser
a vor iuvenes gestrichen iuves et. war zwischen 1506 und 1528 bedeutendes Mitglied der bernischen Jakobsbruderschaft; er wirkte sowohl als Bruderschaftsmeister als auch als Vertreter der Obrigkeit (s. Kathrin Tremp-Utz, Eine spätmittelalterliche Jakobsbruderschaft in Bern, in: Schweizerische Zeitschrift für Kirchengeschichte 77, 1983, S. 73. 84. 93). Graffenried scheint mehrmals gegen Solddienstgesetze verstoßen zu haben; 1500 wurde er deswegen vorübergehend aus dem Großen Rat entfernt (s. Anshelm II 279; vgl. ebd. 287). Im Jahre 1512 wurde er Venner. Von 1526 bis 1533 vertrat er Bern häufig an Tagsatzungen und in andern außenpolitischen Geschäften. Aus seiner hier im Brief angesprochenen Verwicklung in die Bestechungsaffäre konnte er sich erst 1538 lösen (s. unten Anm. 13). Er besaß Güter und Herrschaften in Aigle und Holligen, 1541 erwarb er das Edellehen Chivron, und 1544 kam er in den Besitz des Schlosses St-Triphon. - Lit.: ASchweizerRef, Reg.; ABernerRef, Reg.; EA IV/Ia, b, c, Reg.; HBLS III 627; LL IX 86f.
11 Das ehemalige Johanniterhaus an der Metzgergasse, wohin Graffenried sich flüchtete (s. Anshelm VI 193), besaß immer
noch das Asylrecht. Siehe R[udolf] G[ottfried] Bindschedler, Kirchliches Asylrecht (Immunitas ecclesiarum localis) und Freistätten in der Schweiz, Reprint der Ausgabe Stuttgart 1906, Amsterdam 1965. - Kirchenrechtliche Abhandlungen 32/33, S. 203 f.
12 Bernetta von Graffenried, geb. Matter.
13 Graffenried war aus Angst vor dem peinlichen Verhör in die Freistätte geflüchtet, wo er das Urteil - Entsetzung von allen Ämtern und Entzug der bürgerlichen Ehren - abwartete. Im ,Juli 1534 wurde erneut gegen ihn ermittelt. Im Jahr 1538 wurde das Verfahren abgeschlossen, Graffenried erlangte seine bürgerlichen Ehren und Rechte wieder und wurde in den Großen Rat aufgenommen. Siehe Tillier III 314 f und Anshelm VI 193.
14 Hans von Erlach.
15 Zu von Erlachs Fall s. Tillier III 314-316, Anshelm VI 192-194 und unten S. 71, 16-21
16 Weiteres zur Affäre, vor allem zu den Fällen Spillmann und Diesbach, s. unten S.71, 21-37 mit Anm. 19. 20.
17 Näher nicht bekannt.
18 Philibert de Compois, Herr von Thorens.
19 im Gebiet des Herzogs (SI II 1414).
20 Karl III., Herzog von Savoyen.


Briefe_Vol_04_0056arpa

ingenommen von eim andren edelman 21 ; der hett begert burger ze Bern werden, damitt imm als einem hindersässen 22 allein zum rechten nach vermog der pündten der statt Bern und hertzogen möchte geholffen werden 23 . Damitt söllichs verhindert wurde, ist von siner widerpart das gelt usßteilt 24 , kumpt nitt vom Frantzosen. Es ist ein gots erbärmdt 25 . Ich bin sy 26 übel 27 erschrocken.

Vocantur civitates christianae omnes ad comitia in urbem nostram ad 22. februarii nescio qua causa, sed subodoro eam esse, quod Salodorenses omnia, quae promiserant, negarunt mendaciter 28 . Tu fac, ne vestrates 29 negent. Kommend sy, wirt man inen gutt gschirr machen 30 , quo vetus coalescat amicitia.

Ceterum, quod ad me attinet, in mense hoc ter lecto incubui, sed convalui interim b nihil magis desiderans, quam ut in Prophetas vel aliquid a Theodoro mittas, ne vestris studiis et nos omnino privemur. Poteris autem commode apud legatos, si saltem venturi sunt ad comitia. Id quod moneas etiam Christophorum Froschower. Prophetas 32 misit. Ultimum expecto tomum in lob, Psalterium etc. 33 et reliqua Vadiani 34 . De Corinthiis 35 a te illustratis nihildum accaepi. Parce. Ich hab so ilents gschriben, daß ich den brieff nitt überläsen hab.

Ultima ianuarii 34.

Scio multa a te petiisse in prioribus literis 36 . Si adhuc sint prae manibus et poteris, respondeas.

Tuus B. H.

[Adresse auf der Rückseite:] Heinrico Bullingero, Christi preconi apud Tigurum, fratri suo charissimo.

b vor interim gestrichen inn[?].
21 Wohl Philipp von Savoyen, Graf von Genevois; vgl. auch Corr. des réformateurs III 70 f, Anm. 4.
22 als einem zu Berns Herrschaftsbereich Gehörigen, bzw. in dessen Gebiet Niedergelassenen (s. SI VII 1351 -1360).
23 Philibert de Compois dankte dem Berner Rat am 5. Jan. 1534 dafür, daß dieser ihn zum «hindersässen und burger» angenommen hatte; s. Bern StA, RM 243, 19 f.
24 Michael von Greyerz, s. oben Anm. 9.
25 Es kann Gott erbarmen (s. SI IV 1594).
26 dessen. 27 arg, sehr (SI I 55).
28 Vom 24. bis 26. Februar 1534 verhandelten Gesandte aus Zürich, Bern, Basel, Schaffhausen, St. Gallen, Mülhausen und Biel in Bern über die Solothurner Glaubensfrage; s. EA IV/IC 277-279.
29 die Zürcher.
30 wird man sie gut empfangen (SI VIII 1160 f).
31 Gemeint sind die Nachschriften der Vorlesungen Biblianders zu den Propheten, die sich Haller schon früher erbeten hatte; s. HBBW III 276, 67 f und Anm. 33.
32 Pellikans Kommentar zu den Propheten, der dritte Band der fünfbändigen Ausgabe zum Alten Testament, erschien erst im März 1534; vgl. u. a. Zürcher 112. 118 f.
33 Pellikans Kommentar zu Hiob, Psalmen, Sprüche, Prediger und Hohelied erschien, auch im März 1534, als vierter Band des Gesamtwerkes; vgl. u. a. Zürcher 112. 118 f.
34 Haller meint Vadians Schrift «Epitome trium terrae partium», die er - seit August 1533 bei Froschauer in Satz und Druck - in Lieferungen bezog (s. HBBW III 182, 4 f und Anm. 5). Das Werk wurde von Froschauer im September 1534 fertiggestellt (s. unten S. 267, Anm. 70).
35 Bullingers Kommentar zum 1. Korintherbrief erschien bei Froschauer im Juni 1534; s. HBBibl 1 53; HBD 23, 27 (Bullingers Angabe August ist nicht richtig, denn am 5. Juli 1534 verdankt Haller den Erhalt eines Exemplars; s. unten S. 239, 2 f).
36 Siehe HBBW III Nr. 307 und 309; auf diese Briefe hatte Bullinger offensichtlich noch nicht geantwortet (vgl. auch unten S. 70, 2 f).