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Autograph: Zürich StA, E II 365, 40-46 (Siegelspur)
Renato hatte Peter Finer, der eine Reise nach [Zürich] vorhatte, einen Brief [Nr. 2163]für
Bullinger mitgegeben. Darin bedankte er sich für die übersandte [,,Orthodoxa Tigurinae ecclesiae
... confessio"], mit der die Gegner unter größter Zurückhaltung widerlegt werden. Die
darin geäußerte Auffassung entspricht zum größten Teil der der italienischen [Evangelischen].
Möge Gott nun [dem verletzten] Luther beistehen! — In der Abhandlung der [Zürcher]gefällt
Renato eines nicht ganz. Diese behaupten, dass im Mahl (coena) außer Brot und Wein der Leib
und das Blut Christi auf irgendeine Weise wahrhaft verzehrt würden. Aber durch welches
Schriftzeugnis wird das belegt? Die Worte "Tut dies zu meinem Gedächtnis" [Lk 22, 19f]
zeigen, dass Christus der Nachwelt nicht eine Art des Essens seines Leibes und des Trinkens
seines Blutes aufgetragen hat, sondern zum Gedächtnis einlud. Zwischen Essen und Gedächtnis
bestehen Unterschiede. Das "Essen" [des Herrn] nämlich geschieht einmal, und zwar,
wenn man dem Evangelium von Herzen zustimmt; das Gedächtnis findet statt, sooft es beliebt;
das "Essen" von jedem allein und heimlich; das Gedächtnis nur, wenn man sich öffentlich
[zur]Predigt versammelt. Wenn man das [innere]"Essen" nicht erfährt, wird man keineswegs
des Verrats angeklagt; wenn man aber am [Gedächtnis]mahl ohne Glauben teilnimmt, macht
man sich des Verrats schuldig. Im ersten Fall ist das Empfangen von Leib und Blut Christi
dasselbe, wie zu glauben, dass Christus für die [Menschen] gestorben ist; im zweiten Fall
bedeutet das Spenden von Brot und Wein, sich an den für die [Menschen] erlittenen Tod
Christi zu erinnern. — Die Einladung Christi "Tut dies ..." interpretiert Paulus folgendermaßen:
"Sooft ihr nämlich das Brot esst und den Kelch trinkt, verkündigt ihr den Tod des Herrn,
bis er wiederkommt"[1Kor 11, 26]. Christus hat uns also vorgeschrieben, das Brot, nicht den
Leib, und den Wein, nicht das Blut zu essen und zu trinken, um damit seines Todes und unserer
Erlösung zu gedenken; so spricht auch die Schrift vom Brechen des Brotes und nicht etwa vomBriefe_Vol_15_436 arpa
Essen des Leibes. Das Gedächtnis ist zu feiern, nicht Gegenwärtiges oder Zukünftiges. —Nach
Meinung Renatos enthielt das Mahl (coena), das die Korinther Paulus zufolge verdorben
hatten, zwei Komponenten, nämlich eine Mahlzeit (epulum) und eine religiöse Zeremonie
(libatio)1 . Die Mahlzeit bestand neben Brot und Wein auch aus anderen Nahrungsmitteln; die
zeremonielle Komponente bestand aber nur aus Brot und Wein. Gerügt hat Paulus nicht die
Zeremonie, sondern die Mahlzeit, wie dies aus [1Kor 11, 21] und [1Kor 11, 33f]hervorgeht.
Diejenigen, die hungrig waren, fingen sogleich an zu essen, ohne auf die anderen zu warten,
und vergaßen dabei, wohl weil sie hungrig waren, die zeremonielle Dimension des Mahls: So
machten sie sich schuldig an Leib und Blut des Herrn [vgl. 1Kor 11, 27] und waren sich nicht
mehr bewusst, gemeinsam einem Leib auf geistliche Weise anzugehören. Möge Gott [der
Kirche] auch diese Mahlzeit zurückgeben, wie er die Zeremonie schon zum größten Teil wiederhergestellt
hat, damit die Christen wieder das ganze Mahl und nicht mehr nur einen Teil
davon speisen! Die [Lutheraner] mühen sich also vergeblich ab, wenn sie den [Reformierten]
diese Aussagen Paulus' vorhalten. — Wenn den [Reformierten]das [letzte]Mahl, das der Herr
mit den Aposteln feierte, entgegengehalten wird, ist wie folgt zu antworten: In diesem Mahl hat
Christus tatsächlich nicht nur Brot und Wein angeboten, sondern auch seinen Leib und sein
Blut; das Brot sollte mit der Hand, der Leib mit dem Herzen empfangen werden. Er hat die
Teilnehmer aufgefordert zu glauben, dass er für sie seinen Leib ausliefern und sein Blut
vergießen werde, um ihre Sünden zu tilgen. Heute ist dies anders: Im Mahl wird ein Gedächtnis
gefeiert. Im damaligen Mahl waren die Anwesenden, unter denen es auch Gottlose und
Heuchler gab, zum Glauben aufgefordert. Im heutigen Mahl bekunden die schon Glaubenden,
was Christus für sie getan hat. Unterscheidet man nicht zwischen diesen beiden, wird man sich
weiter über das Mahl streiten. — Nun zur Gegenwart Christi im Mahl. Die [Reformierten]
zweifeln nicht, dass Christus inmitten der Tischgenossen ist, und zwar nicht fleischlich, sondern
im Geist, nämlich so, wie er seinem Versprechen gemäß anwesend sein wollte inmitten
derer, die in seinem Namen zusammenkamen [vgl. Mt 18, 20 par.]. Daher ist unverständlich,
weshalb viele so grämlich auf die Gegenwart Christi im Mahl pochen, da keiner diese bezweifeln
kann. Und da der Herr nichts anderes verlangt, als dass die [Menschen] sein Gedächtnis
zusammen feiern, darf darüber hinaus nichts Weiteres gewünscht werden. — Aus
Zeitmangel schreibt Renato nicht weiter darüber. Was er hier vorgelegt hat, betrachtet er nicht
als ein Dogma, sondern als eine Meinung, über die er das Urteil der gelehrteren [Zürcher]
erbittet. —Wegen der Teuerung sollen die zum Konzil angereisten Papisten, die nicht gewohnt
sind zu hungern, Trient schon verlassen haben, weil sie befürchten, die Lutheraner auf einen
Sieg hoffen zu lassen, falls sie sterben würden. Falls Bullinger Nachrichten über die Fürsten
dieser Welt oder über die Religionssache [in Worms]hat, soll er berichten. —[P.S.:]Bullinger
möge den beiliegenden Brief [unbekannt] an Celio Secondo [Curione] in Lausanne weiterbefördern.
[Gedruckt: Petrus Dominicus Rosius a Porta, Historia Reformationis Ecclesiarum Raeticarum, Bd. 1/2, Chur 1771 (bzw. Lindau 1777), S. 104-109; Graubünden, Korr. I 75-80, Nr. 59; Renato, Opere 141-146, Nr. 5.]