Heinrich-Bullinger-Briefwechseledition, Universität Zürich © Heinrich Bullinger-Stiftung Arpa Bibliothek Textbreite Schriftgröße

[2245]

Bullinger an
Camillo Renato
Zürich,
18. September 1545

Abschrift von Leodegar Hirsgarter 1 mit autographer Überschrift und Ergänzung: Zürich StA, E II 345, 276-281

Bullinger hat Renatos Brief [Nr. 2212]erhalten, daraus dessen Meinung über das [,,Warhaffte Bekanntnuß" der Zürcher] als Antwort auf Luthers [,,Kurtz bekentnis"] entnommen und ist dankbar für Renatos offen geäußerte Meinung. Die Behauptung, dass im Mahl (coena) außer Brot und Wein der Leib und das Blut Christi auf irgendeine Weise wahrhaft gespeist werden, stört Renato, der auch bezweifelt, dass solch eine Lehre anhand der [Heiligen]Schrift bezeugt werden könne. Doch ist zu beachten, dass, wenn der Gläubige das Mahl feiert, sein Gemüt (animus) nicht auf Brot oder Wein, sondern auf das Dargestellte ausgerichtet ist, nämlich auf Christi Leib und Blut, auch wenn diese weder im noch mit dem Brot dargereicht werden, weil sie sich zur Rechten Gottes befinden, wie das auch aus den von den Alten während der

1 Vgl. HBBW XIV, Nr. 1931. 1934. — Zu seiner Abschreibetätigkeit für Bullinger s. auch aao, S. 422, 15f.


Briefe_Vol_15_530arpa

Mysterienfeier ausgesprochenen Worten Erhebet die Herzen!" hervorgeht. Mittels der Symbole (symbola), die eine Versinnbildlichung sind, konzentriert sich der das Mahl feiernde Gläubige auf den für ihn geopferten Christus, und dabei werden ihm durch den Glauben die durch Christi Opfer gewonnenen Gaben zuteil. Deshalb nimmt der Gläubige nicht nur am Brot, sondern auch am Herrn selbst teil, was aus Ioh 6 hervorgeht, und von der wahren Kirche anhand der Schrift stets bekundet wurde. Renato meint, dass das Speisen (manducatio) einmal geschehe, und zwar, wenn man dem Evangelium glaubt, wohingegen das Gedächtnis stattfindet, sooft es beliebt. Gewiss ist der Glaube eins [Eph 4, 5]; er mehrt sich aber, sonst würde man im Evangelium nicht lesen: "Mehre uns den Glauben" [Lk 17, 5]. Dieser eine Glaube muss erneuert und erquickt werden, was immer dann geschieht, wenn der Mensch sich von der himmlischen Gnade oder dem Wort des Lebens ernährt. Da das Mahl zugleich aus Zeichen (signum) und Wort besteht, warum sollte dann im Mahl der Gläubige nicht Christus speisen? Da Christus uns vorgeschrieben hat, das Brot, nicht den Leib, den Wein, nicht das Blut zu essen und zu trinken, zieht Renato daraus den Schluss, dass im [Mahl] allein das Gedächtnis zu feiern wäre. Gewiss sind Brot und Wein Symbole; als solche aber erinnern sie den Gläubigen daran, dass der Herr sich für ihn geopfert hat. Glaubt der Gläubige daran, wird er gewiss im Glauben vom Leib und vom Blut des Herrn geistlich gespeist, auch wenn dabei der Mund nur Brot und Wein isst. Renato betont, dass man sich nicht an gegenwärtige Dinge erinnern müsse, sondern an Vergangenes und Abwesendes. Es stimmt, dass das Gedächtnis sich auf den einmaligen und der Vergangenheit angehörenden Tod des Herrn bezieht. Der Herr ist aber weiterhin durch den Glauben im Verstand und Geist des Menschen gegenwärtig, so dass dieser [im Mahl] durch den Glauben Jesus mit all seinen Verdiensten (beneficia) empfängt. Würde der Gläubige im Mahl nur Brot erhalten, spielte der Glaube dabei keine Rolle mehr! Im Gegensatz zu Renato ist Bullinger der Meinung, dass die Mahlzeit (epulum) [der Korinther] nicht wieder mit dem Mahl in Verbindung gebracht werden sollte, besonders in einer Zeit, die der Unmäßigkeit und der Trunkenheit verfallen ist. Hier sollte nämlich gemäß der apostolischen Regel [Röm 14, 19]allein die Erbauung der Kirche ins Auge gefasst werden. Die Erfahrung der Korinther zeigt ferner, dass ausgerechnet diese Mahlzeiten nicht dazu beitrugen. Renato unterscheidet zwischen dem ersten Mahl und den späteren [Abend]mahls[feiern] und meint, dass beim ersten Mahl der anwesende Christus sich selbst seinen Jüngern durch den Glauben dargeboten habe, weil die Jünger zum Empfang, "Accipite, edite" [Mt 26, 26], aufgerufen wurden, währenddem in den späteren [Abend]mahls [feiern] allein das Gedächtnis gefeiert wird; deshalb [die abschließende Aufforderung] "Hoc facite" [Lk 22, 19; 1Kor 11, 24]. Für Bullinger trifft diese Unterscheidung keineswegs zu, zumal Paulus schreibt: "Ich habe vom Herrn empfangen, was ich auch an euch weitergegeben habe" [1Kor 11, 23]. Das "Accipite, edite" wie auch das "Hoc facite"betrifft sowohl die Jünger als auch die späteren Gläubigen, denn obgleich Jesus damals körperlich anwesend war, hat er die Jünger nicht nur auf sichtbare Dinge, sondern auch auf die von ihm durch den Glauben zuteilwerdenden Verdienste aufmerksam gemacht. Ob bei der ersten oder bei den späteren [Abend]mahls[feiern], stets wird der Tod des Herrn verkündigt, der Glaube an die Vergebung unserer Sünden gestärkt, und [die Teilnehmer] werden zur Dankbarkeit angeregt. Schließlich nehmen heute wie damals auch Heuchler am Mahl teil. Trotz alledem vertreten Renato und Bullinger gemeinsame Ansichten: Eine geistliche, keine fleischliche Gegenwart Christi im Mahl (auch wenn die Zürcher dabei die durch den Glauben erzeugte Gegenwart Christi betonen; s. Gal 3, [1-5]); die ebenfalls durch den Glauben anerkannte Gegenwart Christi zur Rechten Gottes (da die Vereinigung Christi mit dem Gläubigen oder das Speisen von Christus durch den Gläubigen nichts anderes als den Glauben [in Christus]bedeutet); der schon von Augustin anerkannte sakramentale Charakter des Mahls (währenddem also nicht nur der [Heilige] Geist im Gläubigen wirksam ist, sondern auch die externen Symbole sprechen und Zeugnis ablegen); die Abneigung gegenüber jeglicher Meinung, die dem Mahl einen unaussprechlichen und unsichtbaren Charakter zuschreibt; sowie auch die Einsicht, dass das Mahl dazu diene, des Todes Christi zu gedenken. Da aber ein Mahl ohne Glauben illegitim wäre, erkennen die Zürcher an, dass der Gläubige von Leib und Blut Christi geistlich gespeist wird, dass aber diese Speisung nicht durch die im Mahl verwendeten Symbole, sondern durch den


Briefe_Vol_15_531arpa

Glauben erfolgt. Auch kommt während des Mahles Christus nicht wieder vom Himmel herab! Renato mag der Ansicht sein, dass der Abendmahlsstreit nie beendet sein könne, solange von einer Speisung des Leibs die Rede ist. Bullinger aber kann sich nicht vorstellen, wie im Mahl der Glaube unterlassen und wie demzufolge die durch den Glauben entstandene Speisung des Leibes Christi bestritten sein könne, insbesondere angesichts Christi Lehre in Ioh 6, zumal alle Gläubigen seit den Aposteln zweierlei in den Sakramenten anerkennen: Einerseits den geistlichen Empfang durch den Glauben; andererseits die körperliche Teilnahme (participatio) an den sichtbaren Symbolen. Die Streitereien unter den Menschen werden ohnehin nie enden. Das Konzil von Trient zerfällt auf schändliche Weise und hinterlässt einen schlechten Eindruck Bullinger würde sich freuen, von Renato mehr darüber zu erfahren. Der kostspielige Reichstag zu Worms wurde ergebnislos aufgelöst: Kein Wunder, da dabei nicht Gottes Ehre und die Erhaltung und Ausbreitung der Kirche, sondern die Wiederherstellung der teuflischen Kirche angestrebt wird.

[Gedruckt: Graubünden, Korr. I 81-85, Nr. 61; Renato, Opere 146-151, Nr. 6.]