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BULLINGER AN
MATHIAS [SCHMID]
Kappel,
8. Februar 1526

Abschrift von Peter Simler 2 mit Randnoten von Bullingers Hand: Zürich ZB, Msc A 82, 91 v. -93 v. 4 fol. S., sehr gut erhalten Gedruckt: Pestalozzi 31-35 3

Seelsorgerliche Ermahnungen zur Festigkeit und zu einem mutigeren Fortfahren in der reformatorischen Wortverkündigung: Mathias Schmid möge in seiner bereits gewonnenen evangelischen Überzeugung nicht wanken, sondern ein treuer Hirt seiner Gemeinde bleiben.

Heinrich a Bullinger, schulmeister zu Cappell, dem ersamen, wolgelerten her Mathysen, pfarrheren zu Sengen 4 , minem besonder lieben b[ruder].

Gnad unnd frid von gott dem vatter unnd unserm heren Jesu Christo.

Hochgeprisen sye der hoch, allein ware, ewig, allmächtig, lebendig und einig gott, der himel und erden und alles, was darinn ist, geschaffen hat, und uns von ewigkeit har versechen, das wir in dem verdienen sines sunes Jesu Christi unsträfflich sin söltend, die zu vor durch sünd unnd prästen 5 also warend durch den fal unsers vatters Ade blos worden an aller reinikeit, das wir nit hettend wonen mögen by dem hochen, reinen gott, den hierumb sine propheten «ein

a Titel oben auf sämtlichen Blättern von Peter Simlers Hand: Ein epistel wider den abfal eines hirten von gottes wort.
1 Gemäß einer Aufzeichnung des Komturs Konrad Schmid (zu ihm s. unten S. 94, Anm. 20) stammte Mathias Schmid aus Uster (Kt. Zürich) und war 1519 Konventuale der Johanniterkomturei in Küsnacht: «Conventuales erant (sc. 1519) ... fr. Mathias Fabri de Uster ...» (gedruckt bei Egli, Komtur Schmid 71). Im Gegensatz dazu bezeichnet ihn das Zürcher Geschlechterbuch, Tom. VII, Lit. S, f. 85 v. (Zürich ZB, Msc E 22) als Magister und nennt als Herkunftsort Rapperswil. Die Angabe des Komturs dürfte jedoch eher Vertrauen verdienen. Später wurde Mathias Schmid der Nachfolger Konrad Schmids in Seengen. Vielleicht schloß sich seine Amtszeit unmittelbar an die Konrad Schmids an, möglicherweise begann er seine Tätigkeit in Seengen erst 1520 (so Zürcher Geschlechterbuch, aaO). Unter dem Einfluß seines Lehensherrn und Kollators Konrad Schmid zeigte er reformatorische Neigungen (s. unten S. 94, 1-5). Schmid nahm an der Berner Disputation vom Januar 1528 teil und unterschrieb die Schlußreden, mit Ausnahme des Artikels über das Sakrament (ABernerRef I 1465). Auf Aufforderung Konrad Schmids erklärte er dort am 19. Januar 1528, daß er das Evangelium gepredigt und die Zeremonien abgestellt habe. Das beweist die Einführung der Reformation in Seengen vor 1528. Seine Abendmahlsauffassung sei bisher diejenige des Pfarrers von St. Gallen (Benedikt Burgauer) gewesen, doch habe er sich von Zwingli belehren lassen. Bei dieser Anschauung möchte er nun standhaft verbleiben, EA IV/1a 1258. Noch im Jahre 1528 dürfte die Wirksamkeit Schmids in Seengen zu Ende gegangen sein (Zürcher Geschlechterbuch, aaO), da von diesem Jahre an Johannes Grunauer als Pfarrer in Seengen genannt ist. Vielleicht ist Schmid in diesem Jahr gestorben; Reinhold Bosch, Aus der Geschichte der Kirche von Seengen, Seengen 1922, S. 12.
2 Siehe oben S. 53, Anm. 2. Die Entstehung der Abschrift fällt in die Zeit der Abfassung.
3 Wiedergabe des Textes in modernisierter Form.
4 Seengen (Kt. Aargau), Gemeinde und Pfarrort. Seit 1490 besaß die Johanniterkomturei Küsnacht das Kollaturrecht. Der spätere Küsnachter Komtur Konrad Schmid wirkte hier 1517-1519 als Leutpriester. Unter Mathias Schmid wurde vor 1528 die Reformation eingeführt (HBLS VI 325, s. unten S. 93, Anm. 18 und S. 94, Anm. 20).
5 Über diesen Begriff in der schweizerischen Reformationsgeschichte s. Locher I 137-140 sowie Locher, Grundzüge 566. Zum Gebrauch bei Bullinger s. Staedtke 161f.


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Heinrich-Bullinger-Briefwechseledition, Universität Zürich © Heinrich Bullinger-Stiftung
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verzerend für» 6 nemend [Dtn 4,24; Hebr 12,29; Jes 33,14], es were dann, das er uß luterer gnad und unußsprechenlicher barmhertzikeit ein pundt mit unns gemachet hette, durch welchen er sin gunst gegen unns uffthon und sich unns für den einigen gott, das ist hordt, trost, schutz, schirm, heil unnd oberstes gut dar gestellt hette, unnd der unns ein somen geben wöllte, in welchem alle volcker der erden söltend glückselig unnd heil werden. Wie dann in ußgang der welt unns Christus Jesus, der gesegnet som 7 , zuvor imm gsatzt unnd propheten verheissen, geleistet, in todt geben unnd von todten uff erweckt ist unnd jetzund sitzet zur grechten 8 gottes, ein wares pfand der hulden gottes gegen unns, die wir durch sin plut von sünden gewaschen unnd mit im in ewiges leben erstanden sind, so wir anders unsere hertzen des beredend unnd starck daruff bastent 9 , das er unns vom vatter geben sye zur reingung, zur fromkeit unnd gnugthüyung, der für und für unser ||92r. fürspräch sye vor dem vatter unnd one 10 inn niemant etc.

Unnd die wyl also ouch du, aller liebster bruder, dises gheimnus durch die gnad gottes erlernet hast unnd weyßt, das nit me dann ein einiger 11 gott, das ist ein einiger trost, hilf, heil unnd oberstes gut, ouch nit me dann ein einiger Christus Jesus, das ist versüner, gnugthüyung, grechtikeit, erlosung unnd heyland, unnd allein ein einiger heiliger geist, der unns heiliget unnd waren gottes dienst lert, also das ussert und nebend disem ghein anderer gottes dienst, ghein fromkeit, ghein gnugthun, ghein heil, ghein trost, ghein verdienen, ghein fürspräch, ghein rouw [!]12 noch unnderschlouff 13 ützit 14 hillfft vor unserem hochen gott, darumb er das hertz unnd glouben ansicht, wir aber niemer von hertzen rein unnd hierumb Cristum [!] vor im zum gnädiger 15 aller welt gestellt. Ja die wyl 16 , sprich ich, dises alles warlichen weißt unnd ouch wie alle 1er ussert deren verflücht, kan ich mich nit gnug verwunderen, das du so gmach herfür brichst mit diner kundschaft 17 , die du mit dinem predgen der heiligen drifaltikeit schuldig bist 18 . Ja wölte gott, das du nit me hinder sich messist 19 dann du gmach

6 Feuer.
7 Same.
8 Rechten (SI VI 227).
9 stützen (SI IV 1779).
10 außer (SI I 262).
11 einziger (SI I 279).
12 Ruhe.
13 Unterschlupf, heimlicher Zufluchtsort (SI IX 120).
14 etwas.
15 Vgl. Zwingli: [Christus] ist die gnädigung für unser sünd (SI II 664).
16 Ergänze: du. Sinn: Ja, weil du, sprich ich, dieses alles wahrlich weißt und auch (weißt) wie alle Lehre außerhalb dieser verflucht (ist).
17 Zeugnis (SI III 353).
18 Am 31. Januar 1526 richteten «Schulthes, klein und gross Rat der statt Bern» an ihre Untertanen das erneute Ersuchen, sich zur Reformationsfrage zu äußern (ABernerRef I 813). Bisher hatte sich Bern der Reformation gegenüber ablehnend verhalten. Die Antworten auf diese Anfrage ergaben kein grundlegend neues Bild (ABernerRef I 824). Auch in Seengen war die Sache der Reformation noch in der Schwebe. Anscheinend möchte Bullinger Mathias Schmid in den Entscheidungen um die Antwort auf die Berner Anfrage zu einem offenen Bekenntnis im reformatorischen Sinne ermutigen und ermahnen (s. unten S. 95,3 f. 22-24; 96,7 f; 97,1-3), vgl. zur Sache Reinhold Bosch, Die Reformation im Seetal. Erweiterter Separat-Abdruck aus dem «Seethaler», Nr. 13, 14 und 16, vom 15., 18. und 25. Februar 1928, S. 5f. Die Berner Anfrage dürfte der unmittelbare Anlaß des Briefes gewesen sein.
19 Ja wollte Gott, daß du nicht rückwärts gehst, sondern bloß langsam vorwärts schreitest, vgl. Pestalozzi 32.


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thust. Hastu jetzund schon vergessen, von wannen du kummen unnd daß bi dem frommen, hanndvesten gottes diener Chunraten Schmiden 20 erzogen 21 bist, welcher one zwyfel dich des wegs des heren bericht, also das du wol weißt, das dise 1er von gott, die warheit unnd ghein lugy 22 ist 23 unnd ee muß himel unnd erden krachen, ee dann ein wort darvon gange? Bistu aber ein warer Christ, das ist ein gesalbeter gottes, so hastu schon die kundschafft gott des heiligen geistes in dinem hertzen, der da zügnus gibt dem usseren wort gottes, das dich wenig der welt schmach reden yrrend 24 ; wann was lyt dir daran, wie die welt kätzery 25 , so du des gwüßlichen im hertzen durch glouben unnd heiligen geist bericht bist, das im nit anders gesin mag, unnd ob glich alle welt darwider toubte 26 ? Besich die 1. Epistel loannis im ußgang des 2. capitels von diser salbung unnd kuntschafft [2,27]. So aber du dise kuntschafft im hertzen hast, das ist so du ein warer Christ bist, wie gibst dann dinem gott nit kundtschafft, oder wie kanstu den geist gottes in dir erstecken 27 ? Oder, so dem allem nüt, weißt dann nit, das dine underthonen tempel sind des heiligen geistes, unnd demnach, das gott alle die schenden 28 wirt, so sinen tempel verunheiligend? Betracht
20 Konrad Schmid, geb. 1476 in Küsnacht (Kt. Zürich), 1505 magister artium in Tübingen, dann Konventual der Johanniterkomturei Küsnacht, ab 1515 an der Universität Basel, 1515 baccalarius biblicus, 1516 baccalarius sententiarius, 1516 baccalarius formatus (Basel, Matrikel I 223). 1517 Leutpriester in Seengen (Kt. Aargau), seit 11. März 1519 Komtur in Küsnacht. Durch Luthers Schriften sowie persönliche Beziehungen zu Beatus Rhenanus und Huldrych Zwingli wird Schmid ein überzeugter Anhänger der Reformation. Eindrücklich predigt er 1522 in Luzern (HBRG I 68f), im Herbst 1522 in Einsiedeln (HBRG I 81), zu Pfingsten 1523 in Zürich an der letzten städtischen Prozession, im August 1524 in Horgen (Kt. Zürich), s. Staedtke, Zug 31 f. Große Verdienste erwarb sich Schmid als Mitarbeiter Zwinglis in seiner Tätigkeit als Verordneter (s. Jacob 89. 92. 94f. 98. 107), bei der Mitwirkung an der Zweiten Zürcher Disputation (s. Z II 699, 15ff; 707, 17ff; 708, 10ff; 710, 30ff; 720, 11ff; 737, 9ff; 793, 15ff; 802, 30f) und der Bekämpfung der Täufer (s. QGTS I 11. 70. 88. 274f. 356; Yoder I 24ff; 48. 73), die er auch literarisch angriff (s. QGTS I 261; Yoder I 104f. 115; Samuel Geiser / Christian Neff, Art. Schmid, in: ML IV 76-78). An der Berner Disputation bekleidete er eines der Präsidentenämter und predigte dort über Lk 10,8-16, s. Finsler Nr. 85. Konrad Schmid war verheiratet (AZürcherRef 1559). Er nahm an beiden Kappeler Kriegen teil und fiel am 11. Oktober 1531. Als theologisch eigenständiger Denker (z. B. in der Abendmahlsfrage, s. Köhler, ZL I 305 f) versuchte Schmid insbesondere an der Zweiten Zürcher Disputation einen mäßigenden Einfluß auf die Durchführung der Reformation zu nehmen, s. Kurt Maeder, Die Via Media in der Schweizerischen Reformation. Studien zum Problem der Kontinuität im Zeitalter der Glaubensspaltung, Zürich (1970). — ZBRG II, S. 147ff. Heinrich Bullinger würdigt Schmids Leben und Werk in HBRG III 147. — Lit.: LL XVI 378f; Emil Egli, Art. Schmid, in: RE XVII 649f; Brecher, Art. Schmid, in: ADB XXXI 684-686; HBLS VI 210; Pfarrerbuch 509; Werner Meyer, Komtur Konrad Schmid von Küsnacht, in: Der Grundriß. Schweizerische Reformierte Monatsschrift, Jg. 7, 1945, S. 323-353; Schl. 19221-19226.
21 Die Umstände der «Erziehung» durch den Küsnachter Komtur sind nicht feststellbar. Vielleicht war Mathias Schmid vor seinem Amtsantritt in Seengen noch längere Zeit in der Küsnachter Komturei unter Konrad Schmids Einfluß. Sicherlich hat jedoch der Komtur als Kollator und Lehensherr mit dem Leutpriester von Seengen in enger Verbindung gestanden und ihn beeinflußt (s. oben Anm. 1).
22 Lüge (SI III 1219).
23 Röm 9,1.
24 hindern, belästigen, stören (SI I 408).
25 Ketzer schelten (SI III 597).
26 wütete (SI XII 88).
27 ersticken machen (SI X 1591).
28 zu Schanden machen (SI VIII 886).


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doch einist 29 , was uff ir habe die sünd 30 , so man nempt inn heiligen geist. Abfallen aber von der warheit, luggen 31 unnd die erkant warheit verwoltigen [!]32 ist sünd in den heiligen geist. So lug mancher für sich mit sinem schwancken im weg der warheit, was grossen zorn gottes der uff sin arme sei lade, wann es sunst ouch geschriben stadt: «Wer sin hannd an den pflug leit unnd sicht hindersich, der ist nit geschickt zum rich gottes» unnd abermals: «Wer sich minen und miner worten beschemt 33 vor disem bösen abtrülligen 34 volck, des wirt sich ouch ||92v. der sun des menschens beschämen, wann er kummen wirt in siner großmächtigen herlikeit zu richten» etc. unnd widerumb: «Nit wirt ein yeder das rych besitzen, der da sprechen kan: her, her!», nit ein jeder, der wol anhept, sunder der nit hindersich loufft und «beharret bis in das end». «O, gedenck der huß frowen Loths!» Du bist ein hirt, des crützes soltu dich nit entsagen. Wann wondist du 35 , das din her Christus Jesus umb dinentwillen sin ewiges wort bräche? Unnd darumb, so er spricht: «So üch die welt hasset, so wüssent, das sy mich vor üch gehasset hat. Werend ir von der welt, so hette üch die welt lieb, nun sind ir aber nit von der welt, darumb hasset üch die wellt. Der knecht ist ye nit grösser dann sin her; habend sy mich verfolget, so werdent sy üch nüt sparen». Aber darab lassend üch nit grusen 36 , «denn also habend sy verfolget die propheten, die vor üch gewesen sind». «Ich hab die welt überwunden» unnd «üwer leid sol in fröud bekert werden».

So nun dem also, muß es schlechtlich 37 erlitten sin. Bist du nun fest, so bist ein hirt, wanckist, so bist ein söldner unnd nit ein hirt. Wach aber uff vom schlaff, bis 38 wacker unnd tritt herfür unnder din verdingten, ja eigen schaff, fürcht dir nit, es ist umb ein suren lufft 39 zethun unnd gib inen grüne unnd gsunde fur 40 für, frischs lebendigs tranck, unnd alles, das mit füssen betrüpt unnd zertretten ist 41 das thu wyt von inen. Allein das einig, ewig, warhafft, lebendig wort gottes macht gsund, starck unnd feyß 42 unnsere seien, wie angezeigt ist durch Ezechiel am 34 [11 ff]unnd David, Psalm 118 oder nach der Ebreeren zal 119 [1ff]43 , und besich in den gschichten der botten 44 am 20. cap. [Apg 20,28], wie thür dir dine schaff werdent bevolchen. Gastu 45 disem nach und laßt dich nit

b v. 32 von fremder Hand.
29 einmal.
30 was es auf sich hat mit der Sünde.
31 nachlassen, nicht beharren (SI III 1235).
32 vergewaltigen, unterdrücken (Lexer II 293).
33 schämt.
34 abtrünnigen.
35 Möchtest du denn ...
36 grausen (SI II 808).
37 einfach (SI IX 67).
38 Imp. von wesen: sei!
39 es ist (nur) ein scharfer Wind (SI VII 1277; vgl. Eph 4,14, unten S. 96,1).
40 Nahrung, Futter (SI I 970).
41 Vgl. Ez 34, 18f.
42 feist, stark (SI I 1071f).
43 Bullinger gibt die Psalmstelle nach der Zählung der Vulgata (118) und des masoretischen Textes (119) an.
44 Apostel (SI IV 1884).
45 gehst du.


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ab wenden ab yedem gegen wind, wol dir, «der herr ist mit dir» [Lk 1,28]! Volgend dir aber die schaff nit, so sye das blut uff ire köppff. Gast du aber disem nit nach, so c wirt alles blut aller diner schaffen von dinen henden erforderet und alle die plagen uff dich uß gossen werden, die allenthalben im nüwen unnd alten testament benamset sind: Deut[er]o. 28 [20ff], Hiere. 23 [12ff], in Michea [1,3ff], Amos [1,3ff], Apocalipsi [6,1ff; 8,7ff u. a.].

Darumb bis mutig, erheb din stimm unnd laß das wort gottes wie ein herhorn 46 schallen unnd trag herfür alts unnd nüws, handlende wie sich einem botten oder legaten Christi vor gottes ougen zimpt, unnd hab nun kein unmut 47 , dann der her ist mit allen denen, die inn suchend mit einem richtigen hertzen, unnd verheißt dir mit dem mund, durch wölchen ghein lugy nit gan mag 48 , trost, hilf, bistand unnd errettung, nit me dann biß trüw am [!] im 49 ; «wann er kan sich selbs nit leugnen», als Paulus von im nit allein züget 50 , sonnder zum dickermal 51 entpfunden hat. Hiere. 1 [17-19]spricht gott also: «Stand uff unnd begürt din lenden unnd verkünd inen alles, das ich dir gebüten, und fürcht dir nun 52 nit vor iren gegenwürtikeit. Ich wil auch machen, das du nit fürchtest iren angesicht, wann ich hab dich dargeben 53 uff hüttigen tag wie ein starcke wolbewerdte statt, wie ein ysine sul 54 unnd ehrine mur 55 über alles ertrich, vor allen künigen, fürsten unnd pfaffen alles ertrichs. ||93r. Unnd sy werdent wider dich stryten, aber nit gesigen; dann ich bin by dir, spricht gott, das ich dich redte.» Item Ezechielis am 3 [8f] spricht gott also: «Sich, ich hab din angsicht vil strenger 56 gemacht dann ires sye unnd din stirnen vil herter dann iren, vil herter dann adamant 57 unnd kißlig 58 . Darumb fürcht sy nun nüt unnd entsitz dir nit 59 vor irem ruch 60 sächen, dann es ist sust 61 ein hart scharpffes 62 volck.» So spricht ouch Christus: «Ich sennden üch wie die schaff mitten unnder die wolff, darumb sind fürsichtig wie die schlangen unnd on falsch wie die tuben. Unnd so sy üch gefangen fürend, so sorgend nit, wie ir üch verantwurten oder gesygen mögend». Dann die wyl ir die sind, so gottes wort fürend, wirt üch ylends ein sölliche kunst unnd red 63 geben, deren weder fürsten noch heren werden noch gedören 64 wider stan.

c vor so gestrichen unnd laßt.
46 Kriegstrompete, Schlachtposaune (SI II 1621).
47 Mutlosigkeit, Traurigkeit (SI IV 583).
48 1 Petr 2,22.
49 «Sei nur treu an ihm», Pestalozzi 33.
50 Vgl. Apg 20,24ff.
51 öfters (SI XII 1243; IV 148).
52 nur (SI IV 764).
53 hingestellt.
54 eiserne Säule.
55 eherne Mauer.
56 stärker (SI XI 2293).
57 Diamant (vgl. adamas).
58 Kieselstein (SI III 524).
59 fürchte dich nicht (SI VII 1669).
60 derb, grob, ungesittet.
61 sonst.
62 unfreundliches, barsches, widerspenstiges (SI VIII 1238).
63 Redekunst, Kunst der Rede.
64 wagen (SI XIII 1519).


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So du nun weißt, das dis ist das war unbetruglich wort gottes, das dir nimmer mer fälen 65 mag, wen fürchtist dann? Warumb trist nit herfür wie ein löw, allem dem zeweren, das dinen schaffen schaden bringen mag? Laß by lib 66 nit zu, das man dich yenen 67 könne ein falschen propheten schelten! Nun spricht aber von selbigen apostolus, daß sölchs alles thügind umb rums willen, den menschen zu gefallen, unnd das sy dem crütz entlouffend. Nit also du, min frommer 68 Mathia, sunder hallt dich fry, dapffer, unsträfflich wie Mathias: Acto. 1 [21ff]. Bewapne dich mit gottes wort, dann es ist gnug, das wir gottes güte unnd gedult also lange zit mit unserem irsal 69 unnd sünden mißbrucht habend 70 . Laß uns betrachten, das wir staub unnd äschen sind unnd unnser tag hingond wie der schatten 71 , das es ein schedlicher gwün ist, so wir glich alle welt gwunnind unnd schaden zu wandtint unseren armen seien. Laß unns zu hertzen gon, das wir christen sind unnd das christenlich wesen nit ein fryheit oder liechtfertikeit ist des fleischs, die wyl wir zu guten wercken verwidmet 72 sind unnd Paulus spricht, das «welche war christen syend, die crützgend iren [!] fleisch mit sinen lüsten». Fürderlicher aber wirt von dir, des halben du ein hirt bist, erforderet ein christenlich wesen unnd das du nit gytig, hochfertig, vertruncken, zornig, gots lesterig, nidig, «unbeschnittner lefftzen» [Ex 6,12], unrein, hürisch, eebrächerisch unnd der glichen (1 Timoth. 3 [2ff]) syest, wann du rechnung geben must dem obersten hirten Christo zu der stund, so du es vilichter nit meintest, unnd geurteilt vor aller wellt, so er kommen wirt «zu richten lebendig unnd todt» [2 Tim 4,1], ouch yedem ze geben noch dem er thon 73 hat 74 .

Dis min trüw ermanung nim, lieber Mathya, im besten uff, darumb sy dir von dinem guten, günstigen unnd getrüwen fründ zu geschriben ist; wann gwüßlichen hette dir gheiner so vil, insonnders ein fäderleser 76 , gesagt, wo ||93 v. inn nit hette gunst 77 zu dir gezogenn. Unnd bis nun mutig, wann du selbs bas weißt, das wir umbgond mit der götlichen warheit. Oder zu wem wysend 78 wir, on 79 zu gott? Was lerend wir, on ein christenlich wäsen? Woruß, on allein uß dem götlichen

65 im Stiche lassen (SI I 769).
66 Warnungsformel: bei Lebensstrafe (SI III 978).
67 irgendwie (SI I 296).
68 Siehe zu diesem Ausdruck: Veronika Günther, «Fromm» in der Zürcher Reformation. Eine wortgeschichtliche Untersuchung. Diss. phil. Basel, Winterthur 1955. Das Wort «fromm» (ursprünglicher Sinn: «wacker, ehrenhaft») machte in der Zürcher Reformationsgeschichte einen Bedeutungswandel durch. Auf Menschen angewandt bezeichnete es bei Zwingli als höchstes lobendes Beiwort den vor Gott gerechten Menschen. Möglicherweise spielt Bullinger mit der Benutzung dieses Wortes auf die evangelische Haltung Schmids an, vgl. Willy Brändly, Zur Selbstbezeichnung der Evangelischen, in: Zwa VIII 479.
69 Irrtum.
70 Vgl. 1 Petr 4,3.
71 Ps 102,12.
72 bestimmt. 73 getan, gehandelt.
" Siehe Mt 16, 27.
75 «Quo pacto possis advlatorem ab amico dignoscere, Plutarchi, Erasmi interprete», enthalten in: Opuscula Plutarchi nuper traducta. Erasmo Roterodamo Interprete, Basel 1514, f. 2r. - 21r. (LB IV 1-22); außerdem ist die Schrift in der Institutio principis Christiani des Erasmus (Basel 1516, 1519) wiedergegeben.
76 Einer, der Federlesens macht (SI II 1420).
77 Gewogenheit (SI II 377).
78 weisen.
79 außer, ausgenommen (SI I 262).


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wort, das wir ouch in siner art blyben unnd gschrifft mit gschrifft 80 ußlegend? Wer ist unnser trost, hilf unnd grechtikeit 81 , fürspräch 82 unnd leben 83 , on allein Christus? Wer ist dann, dem da yenen 84 möchte grusen, die wyl häll gesprochen ist: «Ich bin das liecht der wellt; wer nach mir gadt, der wirt nit irren in einiger 85 vinsternus»? Sihe, das hat geredt der mund aller warheit 86 , dem volgend wir (weißtu wol) mit unnserem leren unnd ouch, so vil gott gibt, mit dem leben. Wie köndte dann yemands unnder den christen grusen? Denen aber, die unns also unverschampt uß unwüssenheit ketzerend 87 , verlihe gott sin hecht, wann wir warend ouch «etwan finsternus, jetzund aber liecht in dem heren» [Eph 5,8], unnd zwaren, söllte es nießwan 88 gon an die pundt riemen 89 , wölltend wir gwüßlichen unnd one arbeit dise schmächer nit allein uß götlichem wort, sonder ouch uß den alten consilien unnd vetteren, Niceno 90 , Aphricano 91 , Carthaginense 92 , Ephesino 93 , Mileventano 94 , Tertulliano 95 , Augustino 96 , Cipriano 97 , Lactantio 98 , Athanasio 99 , Origene 100 unnd der glichenn öffentlich unnd heiter überzügen, das sy erger kätzeryen lerend unnd uffnind 101 , dann Hebionis 102 , Martionis, Arrii 103 und Manichei 104 ye gewesen sind 105 .

Der gott aber, so alle die begnadet, die in warem glouben unnd unschuldigem leben vor im wandlend, ouch nit fürchtend sinem namen zugnüs geben

80 Siehe Staedtke 78.
81 1 Kor 1,30.
82 1 Joh 2,1.
83 Phil 1,21.
84 irgendwie (SI I 296).
85 einsamer (SI I 279).
86 Vgl. Jes 45,23; 1 Petr 2,22.
87 Ketzer schelten.
88 irgendeinmal (SI IV 810).
89 Sollte es irgendeinmal um die Entscheidung gehen (s. SI VI 910).
90 Auf welches nicänische Konzil sich Bullinger bezieht, ist nicht auszumachen.
91 Vermutlich ist die Karthagische Synode von 419 gemeint, die «Concilium Africanum» genannt wurde, Staedtke 75.
92 Vielleicht ist die Synode von Karthago von 256 gemeint.
93 Vielleicht bezieht sich Bullinger auf das Konzil von Ephesus 431.
94 Vermutlich sind die 27 Kanones mehrerer afrikanischer Synoden gemeint, welche der Synode von Karthago 411 zugeschrieben wurden und als «Concilium Milevitanum II» bezeichnet wurden, Staedtke 75.
95 Zu Quintus Septimius Florens Tertullianus s. oben S. 55, Anm. 3.
96 Aurelius Augustin (354-430). Obwohl Bullinger die Schriften des Kirchenvaters gründlich studiert hatte (vgl. etwa HBD 6, 4; 8, 17; 9, 14), scheint Augustin auf die frühe theologische Entwicklung Bullingers keinen entscheidenden Einfluß ausgeübt zu haben, s. Hausammann 85-87.
97 Zu Cyprian s. oben S. 72, Anm. 7.
98 Zu Laktanz s. oben S. 72, Anm. 6.
99 Athanasius von Alexandrien (etwa 295-373). Noch vor seiner Übersiedlung nach Kappel las Bullinger 1522 Athanasius, HBD 7, 16; s. Staedtke, passim, bes. S. 44, 263.
100 Origenes (etwa 185 bis etwa 254). Bullinger zog zwar Origenes bei seiner eigenen Schriftauslegung heran, fällte aber ein negatives Urteil über dessen Kommentare, s. HBD 10, 9; Hausammann 63-70; 82-86, bes. S. 70.
101 äufnen, vermehren (SI I 123).
102 Bullinger führt, wie schon Tertullian, die ebionitische Ketzerei fälschlicherweise auf einen Mann namens «Ebion» zurück. Tatsächlich rührt die Bezeichnung von 'Ebjônîm (griechisch greek = Arme) her, G. Strecker, Art. Ebioniten, in: RAC IV 487 f.
103 Die häretischen Lehren von Arius und Marcion wurden mehrmals kirchlich verurteilt, s. Denz. 112. 130. 155. 156. 435. 454. 1139. 1342, u. ö.
104 Die Form Manicheus war im 16. Jahrhundert für Mani üblich.
105 Zu dieser Aufzählung s. Staedtke 71ff.


Briefe_Vol_01-099arpa

vor aller welt 106 , der welle ouch din hertz unnd gmüt erlüchten 107 107 , das du sin ware eer unnd herlikeit warlich unnd one falsch verkündist, also das dine schaff, dir von Christo geben, warlichen in warem glouben unnd unschuldigem leben dem hochen einigen gott dienind. Unnd die huld gottes sye mit dir unnd allen denen, die Christen 108 gottes sun in der warheit liebend 109 . Amen.

Von Cappell, des 8. tages februarii im 1526, ylends unnd schnell.

106 Vgl. Mt 10,32.
107 Vgl. 2 Kor 4,6; Eph 5,14.
108 Christum.
109 Eph 6,24.