Heinrich-Bullinger-Briefwechseledition, Universität Zürich © Heinrich Bullinger-Stiftung Arpa Bibliothek Textbreite Schriftgröße

[2358]

Bullinger an
Wolfgang Musculus
Zürich,
18. Februar 1546

Abschrift von Josias Simler 1 mit Überschrift von Bullingers Hand: Zürich StA, E II 345, 355 Druck: CO XII 288—291, Nr. 769

Bullinger dankt für die beiden Briefe (Nr. 2287 und Nr. 2324] und für die Sorgfalt, mit der Musculus seine Fragen beantwortete. Im ersten Brief erklärt Musculus, dass er lange nicht geschrieben habe, weil er in dem vom Teufel erregten Streit zwischen Luther und den [Zürchern] sich an den Rat [Salomons] halten wollte, der gesagt hat, dass es eine Zeit zum

c Hier und unten Text im engen Einband verdeckt. Fehlstellen wurden aus dem Kontext ergänzt.
d Textverlust durch Entfernung des Siegels.
12 Anspielung auf Bucer; s. Nr. 2323 und Anm. 10.
13 Vgl. Nr. 2323,18f.
14 Vgl. Oekolampads Hirtenbrief an die evangelischen Pfarrer der Basler Landschaft von Herbst 1528, Oekolampad BA II 242.
15 Joh 16, 33. — Damit ist Christus gemeint.
16 Joh 3, 19; 8, 12; 9, 5.
17 Mal 4, 2.
18 Vgl. Mt 25, 40.
19 Heinrich Buchter.
20 Bernardino Ochino.
21 Der Brief wurde Johannes Haller mitgegeben.
1 Josias Simler war damals 15 Jahre alt. Er schrieb schon im Jahr 1545 Briefe für Bullinger ab; s. HBBW XV 16. 155, Anm. a.


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Sprechen und eine Zeit zum Schweigen gibt [Koh 3, 7]. Bullinger nimmt diese Entschuldigung an. Da Musculus nun diesen Streit erwähnt, nutzt Bullinger die Gelegenheit, um zu betonen, dass die [Zürcher] und die [eidgenössischen] Kirchen nicht schuld an dem erneuten Ausbruch dieses Streites seien. Mit seinem ["Kurtz bekenntnis" von 1544] hat Luther die [eidgenössischen] Kirchen und sowohl verstorbene als auch noch lebende Personen angegriffen. Es wäre gottlos gewesen, darauf nichts zu erwidern. Daher antworteten die [Zürcher mit ihrem "Warhafften Bekanntnuß" von 1545], und dies auf milde, wohlwollende und anständige Weise, wie auch in der Zuversicht, dass Gott aus diesem Zank auch Gutes entstehen lassen wird. Luther jedoch wird sich für diesen Anstoß vor Gott rechtfertigen müssen. Es muss betont werden, dass die [Zürcher] in ihrer Schrift weder Privatangelegenheiten noch Beschwerden, die nur mit den Kirchen Zürichs und Wittenbergs zu tun hätten, vorgebracht haben. Sie behandelten im Interesse aller Kirchen lediglich das Thema des Abendmahls (und zwar dessen Zweck, Bedeutung und Auswirkung) sowie die Frage, ob Luther mit seiner Abendmahlslehre (die mit Ausnahme der Transsubstantiationslehre völlig der Lehre des [römischen] Antichristen entspricht) recht hat. Die [Lutheraner] lehren, dass das Brot in seiner Quintessenz der Leib Christi selbst sei, den sowohl die Würdigen als auch die Unwürdigen essen! Diese Speisung wäre also nicht nur geistlich und sakramentalisch, sondern auch leiblich! Ferner lehrt Luther, dass diese Speisung die Vergebung der Sünden und das ewige Leben vermittelt. Für Luther stimmt es nicht, dass der Leib des auferstandenen Christus an einem begrenzten Ort des Himmels sei; vielmehr soll dieser die Eigenschaft haben, überall auf Erden im ehrenvollen und anbetungswürdigen Sakrament (um Luthers Worte zu gebrauchen) anwesend zu sein. Die Zürcher aber lehnen diese Aussagen gänzlich ab. In dieser Anseinandersetzung geht es also um eine öffentliche und die ganze Kirche betreffende Angelegenheit. Da Luther die zürcherische Auffassung verwirft, welche jedoch ungefähr bis ins 11. Jh. im Einklang mit der offiziellen Lehre der Kirche stand, handelt es sich hier um eine ernsthafte Angelegenheit, die keinem [Gläubigen]gleichgültig sein kann. Hier ist keine Mittelposition möglich, genauso wie es in der Vergangenheit keine solche zwischen den Rechtgläubigen einerseits und den ehemaligen Arianern, Eutychianern und Enthusiasten andererseits geben konnte und es heute noch keine solche mit den Anabaptisten und Schwenckfeldianern geben kann. In dieser Angelegenheit neutral zu bleiben, ist nicht möglich! Bullinger will Musculus nicht zum Streit zwingen. Dieser soll jedoch erwägen, ob man Menschen, die die Wahrheit bekennen, seine Hilfe verweigern darf Er scheint [in Nr. 2287]2 nicht richtig verstanden zu haben, warum Bullinger ihm [in einem nicht erhalten Brief]3 vorgeworfen hatte, sich in seinen Schriften nicht einheitlich ausgedrückt zu haben. In einem [früheren] Brief [vom 10. Oktober 1544]4 hat Bullinger ihm doch bereits erklärt, was er an seinen Schriften auszusetzen hat. [Die Protestanten] haben die scholastische Lehre, laut der die Sakramente die Gnade vermittelten, abgelehnt. Nun wird diese wieder eingeführt, indem man behauptet, dass die Sakramente dasjenige darbieten (exhibere), was sie darstellen (significare), und dass demzufolge das Abendmahl nicht nur ein darstellendes, sondern auch ein darbietendes Zeichen ist. Was ist dies anderes, als zu behaupten, dass durch die Speisung im Abendmahl die Gnade vermittelt wird? Wäre das der Fall, muss man sich fragen, wer dies bewirkt. Gott? Die [Einsetzungs]worte? Oder gar der Offiziant? Die Gläubigen, die, ehe sie an dem Abendmahl teilnehmen, ihren Glauben prüfen müssen, sind ja schon Christi teilhaftig geworden! Die im Abendmahl ausgesprochenen Worte bringen dies nur wieder in Erinnerung. Diesen Worten irgendeine Umwandlungs-, Vermittlungs- oder Abwehrfähigkeit zuzuschreiben, wäre so viel, wie ihnen eine magische Wirkung zuzugestehen! Der Offiziant kann nur die Sakramente spenden, und Letztere können nichts vermitteln, zumal sie keine Macht über den Leib Christi besitzen. Erwidert jemand, dass doch nicht das Zeichen (signum), sondern der Herr des Zeichens die Gewalt hat, das Angedeutete zu
2 HBBW XV 642,20.
3 Vom ersten Quartal 1545; s. HBBW XV 642 und Anm. 9.
4 Nicht erhalten; s. HBBW XIV 580,5—10 und Anm. 1. 4.


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vermitteln, dann ist diese Vermittlung nicht an die Abendmahlsfeier gebunden, zumal sie bereits durch den Glauben, durch den wir zu Teilhabern Christi gemacht wurden, stattgefunden hat. Deshalb ist es viel klüger, wenn wir den Zeichen nur die Fähigkeit anerkennen zu bezeugen, darzustellen, in Erinnerung zu bringen und dasjenige zu garantieren, was die Predigt des Evangeliums bezeugt. Dass Musculus also [in seinem Matthäuskommentar]5 die alte Gleichsetzung der Worte "Dies ist mein Leib" mit "Dies bedeutet mein Leib"verwirft, ist für Bullinger unerhört! So etwas taten erst Petrus Lombardus (in seinen Sentenzen) und zuvor diejenigen, die sich schon der durch Berengar von Tours geäußerten Kritik [an der Transsubstantiationslehre] widersetzten. Bullinger weiß, dass die mit Luther eingegangene [Wittenberger] Einigung [von 1536] hoch geachtet wird. Er weiß aber nicht, an welche Einigung Luther sich gehalten hätte! Er glaubt auch nicht, dass alle Deutschen mit Luther glauben, dass der wahrhafte, vollständige Leib Christi nicht weniger von dem Verräter Judas als von Petrus gegessen wurde. Und würden die Deutschen dies glauben, wären sie gleicher Meinung wie der antichristliche Papst und hätten keinen Grund, weiterhin über die Sophisten zu schimpfen. Wenn aber die Einigung darin besteht, anzuerkennen, dass zum einen der gekreuzigte Christus die lebensspendende Speise ist, die man durch den Glauben erhält (so dass Christus in uns und wir in ihm leben [Joh 6, 56]), und dass zum anderen dies im Abendmahl (an dem die Gläubigen gemeinsam und im Geiste verbunden teilnehmen) dargestellt und bezeugt wird, dann hält sich Luther an diese Einigung nicht! Bullinger hätte Musculus dies nicht anvertraut, wenn er ihn nicht so sehr lieben und schätzen würde. Dass Musculus und seine Kollegen bereit sind, die Kirche [Augsburgs]gemeinsam mit [Johannes] Haller zu erbauen, freut Bullinger sehr. Gott möge diese Zusammenarbeit gelingen lassen. Haller hat die Gastfreundlichkeit und das Wohlwollen der [Augsburger]sehr gelobt. In Christus wird er sich seinerseits den [Augsburgern]gegenüber als treu und liebevoll erweisen. Grüße.