Heinrich-Bullinger-Briefwechseledition, Universität Zürich © Heinrich Bullinger-Stiftung Arpa Bibliothek Textbreite Schriftgröße

2

[BULLINGER] AN
RUDOLF WEINGARTNER
Kappel,
15. Oktober 1524

Autographe Abschrift: Zürich ZB, Msc A 82, 50r. -52v. 5 fol. S., sehr gut erhalten Ungedruckt

Freut sich über Weingartners Neigung zur Reformation, erinnert ihn an seine Pflichten als Hirte und Verkünder des Gotteswortes, und beschwört ihn, im begonnenen Werk mutig fortzufahren.

1 Rudolf Weingartner, gest. ca. 16. Oktober 1541, aus alter in Bremgarten niedergelassener Zürcher Familie, ist als Knabe im Kloster Kappel erzogen worden (HBRG III 120) und wurde dort Konventherr; als solcher nahm er 1504 mit seiner Mutter am Zürcher Freischießen teil (Glückshafenrodel I 121,33-36). Am 20. September 1510 wurde er Pfarrer in Merenschwand (Kt. Aargau). 1523/24 hat er diese Pfarrstelle noch selbst verwaltet, bis er dann spätestens im Frühjahr 1526 eine Kaplanei in Zug erhielt (s. Bullingers autographe Notiz über sein Verhältnis zu Weingartner, wahrscheinlich vom Frühjahr 1528, Zürich StA, E II 342,10b, und Weingärtners Bittschrift an Zürich, vor 3. Dezember 1532, Zürich StA, E II 355,47). Nachher ließ er sich in Merenschwand vertreten und residierte in Zug (s. Bucher 44). Nach Bullingers Notiz (aaO) besuchte Weingartner von Merenschwand aus öfters Kappel und zeigte sich der Reformation gegenüber so aufgeschlossen, daß er Bullinger darum bat, ein Schreiben über die Messe an den Pfarrer in Wohlen zu richten, was dann am 16. November 1524 auch geschah (s. Anhang II, Nr. 2). Angeregt durch Joner und Bullinger, neigte Weingartner zur Zeit des hier mitgeteilten Schreibens offenbar zur evangelischen Sache. Bullinger setzte große Hoffnungen auf ihn. Auf Weingärtners Wunsch schrieb Bullinger für ihn bis Ende 1526 wenigstens eine Auslegung von zwei Evangelienstellen und eine Abhandlung (s. unten Nr. 21 und Anhang II, Nr. 8), vom 5. August 1526 bis 18. August 1527 verfaßte er 84 Evangelienauslegungen «Summae evangeliorum de tempore ac sanctis ita conscriptae, ut sylvarum loco haberi possint, unde homeliarum desumatur materia» (Zürich ZB, Msc D 149, 107r. -148r.), die Weingartner als Predigthilfe dienen sollten (s. Bullingers Notiz, aaO; vgl. Staedtke 286). In Zug wandte sich jedoch Weingartner, offenbar aus Opportunismus, immer mehr der herrschenden katholischen Partei zu. Er geriet mit Bullinger über das Abendmahl in Streit, jedoch kaum im Zusammenhang mit der Kontroverse zwischen Bullinger und Burchard 1526 (s. unten Nr. 14), sondern wahrscheinlich erst Anfang 1528, wie Bullingers Notiz (aaO) zeigt: «1528 in feb. Ego de eucharistia quasi antea solebam, ille 11. martii apologiam.» Die in Bullingers Verzeichnis der eigenen Werke bis 1528 unter den deutschen Schriften aufgeführte «Apologia ad librum Rod. Vuingarteri Tugini super eucharistiae negotio» (HBD 15,17 f; heute nicht mehr vorhanden) gehört zweifellos in diesen Zusammenhang und ist wahrscheinlich sogar identisch mit der in der Notiz angegebenen Gegenschrift Bullingers. Es erscheint darum eher unwahrscheinlich, daß Bullinger in seinem Werkverzeichnis die Namen verwechselt und mit seiner oben zitierten «Apologia» irrtümlicherweise seine Antwort auf Dr. Burchards «Gesprächbüchlin» gemeint haben sollte, wie Zimmermann 229 vermutet. Schon im Jahre 1527, nach der Übergabe des Klosters Kappel an die Stadt Zürich, beschwerte sich Weingartner in Zürich und verlangte eine Abfindung, worauf ihm jedoch am 23. November mitgeteilt wurde, daß er eine Entschädigung wie die anderen Mönche nur erwarten könne, wenn er innert Monatsfrist in das Kloster zurückkehre (AZürcherRef 1322). Weingartner blieb in Zug und hielt mit öffentlichen Schmähungen gegen seine frühere Heimat nicht zurück. Der Untervogt von Hausen bei Kappel, Uli Brüder, meldete am 17. September 1528 in Zürich, daß «der lúppriester Wingarter zu Zug min herren und die iren söl ketzern» (UBZug II 2536). Die Bezeichnung «Leutpriester» könnte zeigen, daß Weingartner nicht erst 1531 zum Stadtpfarrer von Zug berufen wurde (vgl. Iten 546); Bullinger nennt ihn sogar schon im Juni 1526 «Tuginorum episcopus» (s. unten S. 121,8). Im Zweiten Kappeler Krieg zog er als Feldprediger der Zuger mit. Der ehemalige Mönch von Kappel spielte dabei eine für sein Kloster und seine früheren Freunde verhängnisvolle Rolle: nach Bullingers Aussage (HBRG III 120) zeigte er als Ortskundiger dem katholischen Heer die günstigsten Wege nach Kappel und trug die Hauptschuld an der Plünderung des Klosters. 1532 wurde er zum Kammerer des Kapitels Zug/Bremgarten gewählt, als dessen Dekan er 1541 starb. Nach Aussage eines Zeitgenossen war er äußerst tolerant und nicht gerade einer der Gelehrtesten; immerhin


Briefe_Vol_01-048arpa

Rodolpho Wingartero suo in Christo fratri dilectissimo. Benedictio filli dei et domini nostri Jesu Christi sit super te, frater in Christo charissime.

Effari non possum, quantis gaudiorum cumulis tum me, tum omnis pectoris mei sinus gaudio referserit pulcherrimus iste, qui nuper apud nos spargi de te coepit, rumor de christiano tui animi genio. Macte ergo virtute dei, sic itur ad astra! 2 Evangelion predicas, egregie facis: spetiosissima tuae tuorumque 3 salutis iacta sunt fundamenta. Quid autem hortari incipiam, ut rem divino spiritu inchoatam absolvas, qui id animo moribusque tuis de te spondeas, nihil recusaturum, quod faciat et ad gloriam Christi et ad tuarum ovium salutem? Sic enim ab ineunte juventute seminaria que-50v. dama exhibuisti, quod dei gloriam et proximi compendium spires, atque ob eam rem mirum, quoties te mecaenas [!] noster Volcatius 4 pie quidem laudibus vehat; proinde non erat, quod calcaria tibi

a oben aRvB als fortlaufende Überschrift: Exhortatio, ut fidelem pastorem agat Wingarterus.
verfaßte er die erwähnte Abendmahlsschrift gegen Bullinger. Merkwürdigerweise wandte sich Weingartner nach 1531 noch brieflich an Bullinger. — Lit.: Pestalozzi 35; Bucher 70; Staedtke, Zug 34.36.46; Staedtke 268 f; Iten 546 f mit älterer Lit.
2 Vgl. Otto 43, Nr. 197.
3 nämlich seiner Gemeinde.
4 Wolfgang Joner (Rüplin, Rüppli), ca. 1471-1531, aus alter Thurgauer Familie, Sohn des Schultheißen von Frauenfeld, gehörte bereits vor dem großen Brand vom 15. Januar 1493 dem Zisterzienserkloster Kappel an (HBAC 443), wahrscheinlich sogar schon seit 1490/91 (AZürcherRef 1735), wurde später Großkellner, 1509 war er Prior (UBZug II 1939), 1519 wurde er an Stelle des an der Pest gestorbenen Ulrich Wüst zum Abt gewählt. Anfang 1521 erscheint er als Mitglied des pazifistischen Humanistenkreises um Zwingli. Die «Querela pacis» des Erasmus wurde auf seinen Wunsch von Leo Jud übersetzt (s. Z VII 439 f; Emil Egli, Leo Jud und seine Propagandaschriften, in: Zwa II 165). Auf der Ersten Zürcher Disputation stellte sich Joner entschieden auf Zwinglis Seite (vgl. Z I 568, 13-16), auf der Zweiten erklärte er sich mit der reformatorischen Lehre «der götzen und bilden halb» und «die meß betreffend ..., das es nit ein opffer ist» völlig einverstanden (Z II 734, 15-32). Zusammen mit Konrad Schmid und Heinrich Brennwald wurde er vom Zürcher Rat mehrmals zu Beratungen bei der Durchführung der Reformation beigezogen (AZürcherRef 456. 532.567; HBRG I 142. 162.295f) und beauftragt, auf der Landschaft zu predigen (s. Z VIII 129f). Ein entscheidender Schritt des Abtes war die Gründung der Klosterschule. Er berief Bullinger am 17. Januar 1523 zum Schulmeister, hielt die Mönche zum Studium der Hl. Schrift und zum züchtigen, frommen Leben an und lud auch andere Schüler zum Studium in Kappel ein, einige sogar aus seiner Heimatstadt Frauenfeld (HBAC 453). An den öffentlichen Vorlesungen, die nicht wenig zur Reformation des Klosters beitrugen, nahm Joner selbst teil und tat alles, um «die guten Kunst und das Heilige Evangelion ze fürdern» (HBAC 452). Vorsichtig und schrittweise führte er die Reformation durch: Am 9. März 1525 wurden die Bilder aus der Klosterkirche entfernt, am 4. September 1525 die Messe abgeschafft und am 29. März 1526 das Abendmahl nach zürcherisch-reformierter Art gefeiert (HBD 10, 16f). Mehrere Mönche heirateten, Joner selbst am 25. Februar 1527, wurden Pfarrer oder erlernten ein Handwerk. Im Jahre 1527 erfolgte die freiwillige Übergabe des Klosters an die Stadt Zürich. In der Urkunde der Übergabe (Zürich StA, C II 4, Nr. 609; auszugsweise gedruckt bei Hausammann 19f) verlangte Joner u. a. weitere Verpflegung und Kleidung für seine Frau im Kloster; sonst bat er um keinen Lohn für sich, bis es mit den Finanzen des Klosters besser stünde, für später stellte er die Lohnfrage dem Zürcher Rat anheim. Das Kloster wurde zu einer Schule für Knaben, die zu Pfarrern oder für den Staatsdienst ausgebildet werden sollten, umgestaltet. Joner behielt die Leitung als Prediger und Verwalter, zusammen mit Prior Peter Simler (s. unten S. 53, Anm. 2; HBRG II 164). Joner predigte viel und kann als eigentlicher Reformator der Gegend gelten. Seine Rechte als Visitator der Frauenklöster Tänikon (Kt. Thurgau) und Frauental (Kt. Zug) stellte er ebenfalls in den Dienst der evangelischen Sache (s. unten S. 57, Anm. 1; Hausammann 33; ASchweizerRef II 855). An der Reformation des Zisterzienserstiftes Wettingen (Kt. Aargau) hatte er persönlich Anteil und richtete dort eine Schule nach dem Muster Kappels ein. In


Briefe_Vol_01-049arpa

admovere 5 necessarium ducerem. Facit tamen incredibilis quidam erga te ardor meus, ut currentem, quod aiunt, incitare 6 compellar. I bone, quo virtus dei te vocat, i pede fausto! Ea certe te nunc aetas tenet, ut possis judicare extincto calore et praecipitantia iuvenili, quae vera piaque doctrina et quid ovibus tuis aut comodo sit aut incomodo.

Esto, proclametur a mundo dei evangelion blasphemum! Verum quid mundus cum evangelio commune habet, quid cum carne spiritus, aut veritas cum hypocrisi? An non ipse Christus, dei filius, cum universa fidelium congregatione hac ignominia deturpatus fuit? Et quid aliud ei obiiciunt impii quam: «demonium habes», quid apostolis, nisi: «musto pleni sunt»? Et quid monet Christus aliud per integra loannis capita quam hoc, quod videmus, nempe evangelion male audire apud homines? Quid aliud docet Paulus, quid Lucas in Actis? [Apg 4,1 ff; 5, 17ff u. ö.] Imo in hoc, quod adeo persequtionem patitur evangelion, se ex deo esse palam ostendit. Malorum quidem procellis sic occurrit beatitudinis fons, Christus: «Beati, cum probra in vos iecerint homines» etc. Proinde, cum eorum persequtio seu famae deturpatio, qui verbo dei herent, nihil sit neque novi, fortuiti, neque insperati aut desperati, adeo te persequtio reselire [!] non faciat, ut multo magis attrahat. Ignoras Pauli vocem? «Si adhuc hominibus placerem, Christi servus non essem». Navitae vel aurigae tempestatuum [!] violentiam adeo non verentur, ut certo sciant se non posse nisi sub aeris intemperie negotiari. Iam tu quoque eam subiisti provinciam, in qua non potes non tonitrua atque hominum expectare fulmina. Episcopus es, oeconomus «et dispensator misteriorum [!] dei».

Hic omnino necessum est aut hanc rem cum summa peragere laude, aut cum aeterna defatigari b damnatione. Certum enim verbum domini, quod nobis hoc pacto ab Ezechiele prolatum est: «Fili hominis, speculatorem te dedi domui Izrael; et audies de ore meo verbum et anunciabis eis de me. Si, dicente me ad impium: <morte morieris>, non anunciaveris ei, neque loqutus fueris, ut avertatur a via sua impia et vivat, ipse impius in iniquitate sua morietur, sanguinem autem eius de manu || 51r. tua requiram. Si autem tu anunciaveris impio, et ille non

b ti von defatigari übergeschrieben.
recht exponierter Lage an der zugerischen Grenze leistete er Zürich gute Dienste durch Informationen über die Stimmung oder Kriegsvorbereitungen in der feindlichen Nachbarschaft. Seine Verdienste um Zürich wurden am 11. Januar 1531 in einem Leibdingbrief ausdrücklich gewürdigt (AZürcherRef 1735); hier wie auch schon in Gerichtsakten vom 11. Juni 1527 (UBZug II 2360) wird er als Zürcher Bürger bezeichnet. Joner fiel in der Schlacht bei Kappel. Bullinger gegenüber war Joner ein väterlicher Freund (HBD 8,21f), 1530 wurde er Taufpate von dessen Tochter Anna (HBD 19,15); Bullinger verfaßte mehrere Schriften für oder an ihn (s. unten Nr. 3.10.20; Anhang II, Nr. 1.10; vgl. auch Einleitung S. 27); Joner schrieb vertraulich an Bullinger kurz vor dem Zweiten Kappeler Krieg (s. unten Nr. 40). — Lit.: Z X 314f; ASchweizerRef III 264.1522; HBRG I 91f; III 87.104.151; Pestalozzi 21. 49f; Egli, Affoltern, mit älterer Lit.; Wyss 80; Pfarrerbuch 367; LL X 585; HBLS V 744.
5 Vgl. Otto 103, Nr. 486.
6 Vgl. Otto 102, Nr. 486.
7 Bullinger gebraucht hier einen Ausdruck der klassischen Rhetorik; die Hauptpunkte der rhetorischen Einteilung notierte er am Rand des Schreibens (s. auch unten). Ein rhetorisch exakt aufgebautes Werk gliedert sich in: 1. principium oder exordium, 2. narratio, 3. argumentatio, 4. peroratio oder epilogus. Die argumentatio zerfällt häufig in zwei Teile: probatio oder confirmatio, und refutatio oder confutatio, d. h. Nachweis der Nichtigkeit der gegnerischen Meinung (Lausberg 262; vgl. Hausammann 163f).


Briefe_Vol_01-050arpa

fuerit conversus ab impietate sua et a via sua impia, ipse quidem in impietate sua morietur, tu autem animam tuam liberasti.» Hic iam veterum horrendissima damnationum exempla intuere: Nadab et Abiu ignem alienum offerentes in conspectu sanctuarii miserabiliter pereunt; et cui iam dubium, quin omnes simili mortis genere perimantur c , quotquot alienum ignem praeter Christi salvatoris in cordibus fidelium deum glorificantem accendere tentant. Animadversionem vero dei sevissimam in Chore, Dathan, Abyron et Hon silentio iam transiliam, quod alias copiose in Numeris Mosaicis descripta sit. Quanto autem verborum pondere, quanta spiritus numerosa verborum turba peccatum filiorum Hell describitur? Quod scilicet deum ignorarent, «dormirentque cum mulieribus, quae observabant ad ostium d tabernaculi». Ceterum illud, queso, quid aliud est quam verbum dei negligere, — quo neglecto necesse est, ut omnis cadat pietas et dei cognitio - stuprare item animas deum querentes, quas polluunt et a deo abducunt imundo sacrilego et adulterino semine, quotquot aliam doctrinam praeter verbum dei predicant? Prophetes quoque alius, eo, quod non obedisset sermonibus domini dei, a leone discerpitur, neque adminiculatur refugium, quod alius eum prophetes edere iusserat. Procul dubio neque tibi aliorum episcoporum exemplum, mores et vita in hac re patrocinari poterunt, quicquid tandem illi sive predicent sive dicant. Te constituit pastorem super oves suas altissimus, te vult esse pastorem fidelem, in hoc, ut aquam non lutulentam pedibusque turbatam, pascua item non conculcata pedibus, sed viridem herbam proponas sitientibusque aquas adaperias quovis cristallo translucidiores. Tibi luditur ista fabula: beatus, qui intelligit. 8

Prophetae Baal, eo, quod populum dei verbo fraudassent, sevissime et crudelissime ab Helia iugulantur; extat eius rei testimonium 3. Reg. 18 [1 Kön 18, 21 ff]. Sed et Jesaias clamat: «Quod si non dixerint iuxta verbum hoc, non erit eis matutina lux. Et transibit per eam et corruet et esuriet, et cum esurierit, irascetur et maledicet regi suo et deo suo; et suspiciet sursum et ad terram intuebitur: et ecce tribulatio et tenebrae et dissolutio et angustia et caligo persequens, et non poterit avolare de angustia sua.» Subsequitur Hiere-||51v. mias: «A minore quippe usque ad maiorem omnes avaritiae student et a propheta usque ad sacerdotem cuncti faciunt dolum. Et curabant contritionem filiae populi mei cum ignominia, dicentes: <pax, pax, pax!> — et non erat pax. Confusi sunt, quia abominationem fecerunt; quin potius confusione non sunt confusi et erubescere nescierunt. Quamobrem cadent inter ruentes; in tempore visitationis suae corruent, dicit dominus.» Adiicit et Ezechiel: «Quia loquti estis vana et vidistis mendatium, ideo ecce ego ad vos, ait dominus deus. Et erit manus mea super prophetas, qui vident vana et divinant mendatium. In consilio populi mei non erunt» etc. Acclamat et Micheas: «Haec dicit dominus deus super prophetas, qui seducunt populum meum, qui mordent dentibus suis et praedicant pacem, et si quis non dederit in ore eorum quidpiam, sanctificant super eum praelium: Propterea nox vobis pro visione erit et tenebrae vobis pro divinatione; et occumbet sol super prophetas et obtenebrabitur super eos dies» etc.

c aus perimur korrigiert.
d das h vom ursprünglichen hostium ausgekratzt.
e 21 aus 20 korrigiert.
8 vielleicht ein Hinweis auf Ps 41,2.


Briefe_Vol_01-051arpa

Quare, cum his et clarissimis et certissimis dei verbis certo certius poenam intentatam habeas, si ab ipsius verbo desciscas, summa ope adnitendum, ut, quam purissime fieri potest, ovibus tuis verbi dei purissimum pabulum proponas. Cogita te unum esse, e quo omnium tuorum spes pendet et doctrina; perpende te non modo animarum dei esse ductorem, verum et fratrum charissimorum. Sanguineus, profecto sanguinarius, neque lupus modo, sed et latro omnium sevissimus, quos terra tulit, fores, si post agnitam veritatem dulcissimo pabulo tuos illos defraudares; non homo, sed tyrannus truculentissimus f , si etiamnum veritatem illis occluderes! An non tum quidem in te quadraret truculentissima domini vox, ita intonans: «Vae vobis, quia clauditis regnum coelorum ante homines. Vos enim non intratis, nec advenientes sinitis intrare». Aut ut Lucas refert clarius: «Vae vobis legisperitis, quia tulistis clavem scientiae; ipsi non introistis, et eos, qui introibant, vetuistis.» Apertus est et apostoli textus: «Propterea quod, cum deum cognoverunt, non ut deum glorificaverunt neque grati fuerunt, sed frustrati sunt per cogitationes suas et obtenebratum est insciens cor eorum. Cum se crederent esse sapientes, stulti facti sunt» etc. —Nescio, quid magis probum virum movere || 52r. possit. Intuere vel hoc etiam, quot habeas quotidie piarum animarum centurias, quas ceu derelictas cernis coram te assistere ac ardenter salutem spirare 13 .

Quid, si hedos aliquot habeas? 14 Ergo ne pastor es? Ergo ne oves perdende omnes, quia hedi aliquot recalcitrant? Et quid dubitas adhuc? Ecce adsunt praesidia, quibus provinciam delegatam regas. Res est nedum facilis, sed et utilitatis plena; dominus enim clamat per Hieremiam et dicit: «Tu ergo accinge lumbos tuos et surge et loquere ad eos omnia, quae ego praecipio tibi. Ne formides a facie eorum, nec enim timere te faciam vultum eorum. Ego quippe dedi te hodie in civitatem munitam et in columnam ferream et in murum aereum super omnem terram, regibus, principibus et sacerdotibus et omni populo terrae. Et bellabunt adversum te, et non praevalebunt, quia ego tecum sum, ait dominus, ut liberem te.» — Neque est, quod dubites ad te ista pertinere; certe ad te spectant. Nam D[ivus] Paulus ait: «Non scriptum est autem propter Abraham tantum, sed propter nos etiam»; item: «Quecumque scripta sunt, ad nostram doctrinam scripta sunt, ut per consolationem scripturarum spem habeamus». Saltem apostolo fide: «Iam si deus nobiscum, quis contra nos?» Persequi [!], capi, puniri, aut etiam occidi

f trucul-aRvB nachgetragen.
9 Der Schluß (epilogus, peroratio, conclusio) soll «in der Rede die Hauptpunkte nochmals zusammenfassen und durch Appell an die Gefühle des Hörers diesen zum Mitleid rühren...», Arbusow 106. Im allgemeinen gilt die Feststellung, daß der epilogus zwei Ziele hat: «Gedächtnisauffrischung und Affektbeeinflussung», Lausberg 431. Hier handelt es sich um den abschließenden, ermahnenden Teil und den eigentlichen Höhepunkt der vorangegangenen Abschnitte.
10 Vgl. die «argumenta a persona» (Lausberg 376) und den «affectus a persona» (Lausberg 257).
11 Ein rhetorisches Verfahren, das im Altertum als Steigerung oder «Erhöhung», im Mittelalter nur als «Erweiterung» verstanden wurde (Arbusow 21).
12 Siehe oben Anm. 10.
13 Vgl. Mt 9,36.
14 Vgl. Mt 25,32.
15 Wahrscheinlich im Sinne von «occupare contraria verba»: einem gegnerischen Einwand zuvorkommen (s. Lausberg 855).


Briefe_Vol_01-052arpa

possumus, vinci non possumus, quia «vicit leo de tribu Iuda» g [Apk 5,5]. Et quid durum, quid difficile reputares, quod mollit et levigat spiritus ille dei corda nostra renovans et fortificans? 16 Clamat Paulus: «Omnia possum in eo, qui me confortat». Quid vero praemium describere pergam, cum «oculus non viderit nec auris audierit, quae dominus praeparaverit diligentibus se»? Et si non plura, certe vel hoc prestat diligens ovium custodia et digna verbi dei tractatio, ut cum Paulo possimus in ultima illa necessitate, quando mundus nutat, amici ad auxilium torpent, divitiae evanescunt et omnia mundana pereunt 18 , interim sola et misera anima nunquam moriens 19 et tamen morti destinata ei sistitur iudici, qui unicuique retribuit iuxta sua studia; ut, inquam, tum possimus dicere: «Mihi vita Christus est et mors lucrum», «cupio dissolvi et esse cum Christo». Nam «bonum certamen certavi, cursum consumavi, fidem servavi. Quod superest, reposita est mihi iustitiae corona, quam reddet mihi dominus II 52v. in h illa die, qui est iustus iudex, non solum autem mihi, sed et omnibus, qui diligunt adventum ipsius».

Proinde te, charissime frater, per sanctam dei persequtionem et salubrem eius crucem, quam electis suis imittit 21 [!], per sacrosanctum episcopale offitium et per terrorem minarum et iuditii dei, per sanguinem domini nostri Jesu Christi, quem copiose pro suis ovibus fudit 22 , quas tibi tradidit pascendas, per auxilium et inflammationem spiritussancti 23 et illam nunquam marcessibilem [!] vitae aeterne [!] gloriam, perque salutem misere [!]animae tuae et omnium tuarum ovium: obsecro et obtestor, ut coeptum negotium absolvas, in veritate dei praedicanda crescas 24 , sic, ut gloria dei et salus ovium verbo et doctrinae tuae dent testimonium. Deus pacis, misericordiae et infinitae gratiae corroboret te et instituat iuxta ipsius sanctissimam voluntatem 25 .

Cappellae, 15. octobris anno ab orbe redempto 1524.

Salvum te volunt fratres in Christo omnes.

g aus iuda korrigiert.
h oben aRvB als Überschrift: Epistola paranetica [!] ad Wingarterum.
16 Vgl. Joh 14,16ff u. ö.
17 Bullinger verwendet hier eines der «Amplifikationsmittel». Nach Quintilian bestehen die Mittel der amplificatio (s. oben Anm. 11) aus «incremento, comparatione, ratiocinatione, congerie»; congeries oder greek ist «der die koordinierende Häufung bezeichnende Terminus» (Lausberg 259.667).
18 Vgl. Mt 24,5ff u. par.
19 Zur Lehre von der Unsterblichkeit der Seele bei Bullinger s. Staedtke 258 f.
20 Siehe oben Anm. 9.
21 Vgl. Mt 16,24 u. ö.
22 Vgl. Joh 10,11.
23 Vgl. u. a. Joh 14,16; Apg 1,8; 2,1ff.
24 Vgl. Kol 1,10.
25 Vgl. Hebr 13,20f; 1 Petr 5, 10.