Heinrich-Bullinger-Briefwechseledition, Universität Zürich © Heinrich Bullinger-Stiftung Arpa Bibliothek Textbreite Schriftgröße

[2044]

[Ambrosius Blarer] an
Bullinger
[Konstanz],
5. Dezember 1544

Autograph: Zürich StA, E II 357, 108f (Brief ohne Siegel); E II 357a, 729f (Beilage mit Siegel) Brief: Zusammenfassende Übersetzung, Blarer BW II 321, Nr. 1145 Beilage: Teildruck und zusammenfassende Übersetzung, Blarer BW II 325f, Nr. 1149

Hat von Blarers Schwager [Heinrich von Ulm]Bullingers Brief zusammen mit dem [Kölner] Reformationsbuch [,,Einfaltigs bedencken"]erhalten; konnte aber aus diesem noch nicht viel lesen; glaubt, dass dessen Verfasser alles reiner eingerichtet hätten, wenn dies ihnen durch das Unrecht der Zeiten und ihren Verhandlungspartnern sowie durch den Fürsten [Erzbischof Hermann von Wied] erlaubt gewesen wäre; ansonsten ist sehr zu wünschen, dass alles sogleich von Anfang an so ernsthaft wie möglich reformiert wird; doch ist die Lage der Kirche nicht mehr die der neugegründeten Kirche, die sich [bloß]auf das Wort des Herrn (auch wenn dieses manchmal einer Deutung bedarf) stützte; demzufolge ist es nicht unangemessen, wenn zunächst vieles nur zum Teil [verbessert wird], bis die Menschen besser werden. Auch Blarer wünscht Philipp [Melanchthon] alles Gute; doch welchen Hass zöge sich dieser zu, wenn er sich nach Zürich begeben würde oder man auch nur erfahren würde, dass er Wittenberg zu verlassen gedenke! Bucer hat Blarer von seinen Briefen an Bullinger erzählt und Blarer beschworen, ihm zu helfen, den von neuem entfachten Brand zu löschen; was Blarer schon allein um Christi willen gern täte. Luthers [,,Kurtz bekentnis"] besitzt Blarer nicht; es schmerzt ihn, dass Bullinger ihn der Verheimlichung verdächtigt -zumal ein gedrucktes Werk zwangsläufig Bullinger in die Hände käme; um jeden Preis würde er für Bullinger das Büchlein erwerben und hat diesbezüglich nach Augsburg geschrieben. [Beilage:]Blarer kennt nicht genau die Ansprüche des württembergischen Herzogs [Ulrich] an [Schwäbisch] Gmünd und noch weniger diejenigen an Esslingen; [im letzten Fall]ging es um Jagdbeute; jetzt aber hat [Herzog Ulrich] erneut vier Bürger aus Gründen, die Blarer unbekannt sind, gefangen genommen. Blarer hat bereits Bullinger geschrieben, dass die Gmünder einen Edelmann [Hans Christoph von Absberg]gefangen genommen hatten und [der Herzog] dessen Freilassung an eben der Stelle verlangte, wo sie ihn ergriffen hatten; doch haben sich die Gmünder darauf berufen, dass sie die Gerichtsbarkeit über den Ort der Festnahme innehaben und dass ferner der Kaiser ihnen befohlen hat, den Gefangenen bis zur Genugtuung der Nürnberger (deren Feind er sei) festzuhalten; da sie dem Wunsch des Herzogs nicht nachkamen, hat dieser zehn oder zwölf [Gmünder] Bürger festgenommen: ein weiteres Traktandum des bevorstehenden Städtetags. Herzog Ulrich hat König [Ferdinand I.] das Kloster Königsbronn, über das er Schirmherr war, zugestanden, so dass dieses jetzt zusammen mit den zugehörigen Dörfern wieder [katholisch] wird; es ist ein großer Jammer, obwohl die Verbündeten [des Schmalkaldischen Bundes]dem zugestimmt haben; wenn dieser Anspruch gerechtfertigt ist, wird es noch vielen anderen Klöstern ähnlich ergehen. [König Franz I.] verachtet die Eidgenossen; da er alt ist, lässt [nun] seine Macht nach, und seine Söhne [Heinrich und Charles]beteiligen sich [nun] viel [an der Politik]; die Eidgenossen sollen [Franz I.] geschrieben haben, um zu erfahren, woran sie mit ihm sind. Grüße an [Diethelm] Röist.

S. Reformationem 1 a sororio 2 cum literis tuis 3 , mi venerande frater, accepi, de qua hoc minus possum pronunciare, quod nec totam nec bonam illius

1 Das Kölner Reformationsbuch "Einfaltigs bedencken"; s. oben Nr. 1838, Anm. 15;
vgl. ferner oben 2030, 23.


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partem pellegi. Puto vero authores 4 ipsos omnia purius instituturos fuisse, si per temporum et hominum, quibuscum agendum illis fuit, iniuriam adeoque per electorem 5 ipsum licuisset. Alioqui valde optandum, ut omnia mox ab initio quam syncerissime in id genus negociis reformentur, quandoquidem res ipsa nos non semel iam edocuit parum felicem successum, quoties in tantam veritatis lucem qualesquales tenebras inferre voluimus. Quum longe alia nunc nostra sit, quam olim erat primo nascentis ecclesiae ratio - quae confesso domini verbo, quamquam nondum ex figurarum involucris explicato, 6 nitebatur -, unde haud immerito tantisper, dum ad perfectiora animi assurgerent, multa simulabantur et dissimulabantur non absque insigni fructu. Verum istuc nunc quoque in bonam partem interpretari conveniet illis, qui vellent quidem, sed non possunt per nullas a remoras recta contendere ad solidam ecclesiarum institutionem.

Philippo 7 hoc ipsum, quod tu, omnibus votis opto. Sed, o Christe servator, quanto se odio degravaret, si, ut istic 8 dignam se conditionem recipiat, 9 adduceretur! Non deerunt, scio, alii quoque, qui illi amplissima salaria constituant, si resciscant eum semel de deserenda W[ittenberga] secum statuisse.

Bucerus ipse mihi de suis ad te literis 10 scripsit 11 obsecrans interim et obtestans, ut sedulus adsim extinguendo illi rursus oborto incendio; 12 quod profecto nemine etiam admonente unius Christi et ecclesiae ipsius studio lubentissime facerem, si rationes, quibus istuc possem, alicunde adfulgerent. Nihil dubito Bucerum Christi gloriam et regni ipsius propagationem unice quaerere, ut multum omnino dandum sit tam egregio Christi organo.

||109 Lutheri libellum 13 , sic me Christus amet et servet, nec ego nec quisquam hic, quod ego quidem sciam, habet, multumque mihi dolet me in eam tibi suspitionem venire posse, ut credas me apud te quicquam hac in re dissimulare. Quur enim, mi Bullingere, istuc facerem? Fieri non potest, quin in manus tuas aliquando veniat, quod in hoc typis excusum est, ut ubique divulgetur. Quanto satius igitur fuerit tempestiviter hoc fieri! Magno profecto emerem libellum vel hac una caussa, ut quam primum ad te mittere

a In der Vorlage alias.
2 Heinrich von Ulm.
3 Nicht erhalten.
4 Zu den Verfassern des "Einfaltigs bedencken" s. oben Nr. 1838, Anm. 15.
5 Hermann von Wied.
6 Vgl. Joh. 13, 7; 16, 12-14; 20, 9. -Vgl. auch 1Kor 13, 12; 2Kor 3, 13-18.
7 Philipp Melanchthon.
8 In Zürich.
9 Bullinger hatte Melanchthon in seinem Brief vom 3. Dezember 1544 (oben Nr. 2042) Zuflucht in Zürich angeboten und
muss Blarer in dem nicht erhaltenen Brief (vgl. oben Anm. 3) davon Mitteilung gemacht haben.
10 Bucers Briefe an Bullinger vom 31. Oktober und 8. November 1544, oben Nr. 2028; 2031.
11 Nicht erhalten. Schon im Brief vom 16. Oktober 1544 (Blarer BW II 310f, Nr. 1135) hat sich Bucer Blarer gegenüber ähnlich geäußert.
12 Vgl. oben Nr. 2028, 22-26.
13 Luthers "Kurtz bekentnis"; s. oben Nr. 1971, Anm. 20.


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liceret; id quod, ubi primum nactus ero, 14 facturum me sanctissime recipio. Augustam scripsi, 15 ut inde accipiam.

Dominus Iesus te conservet.

5. decembris 1544.

||729 [Beilage:]16 Was die ansprachen 17 seye des hertzog von Wirtempergs 18 an Gemynd 19 und Esslingen, mag ich nitt gruntlich wissen, sonderlich Esslingen halber. Die erst ansprach ist gewesen des wilprets halber; 20 aber er hat inen darnach widerum von den seinen zufüren lassen wie vormals; yetzünd 21 aber hat er inen von newem vier burger gefangen; 22 ausß was ursachen, hab ich noch nitt aigentlich gehört.

Gmynd halber hett ich euch vormals geschriben 23 , alls ich gewänt hab, das sy ain edelman 24 in seinem forst gefangen haben; den hat er gewellt, das sy ledig lassend und in die fustapffen stellen, in denen sy in gefangen haben. Aber die von Gmynd habend die hochen gericht an denen enden und orten, da diser gefangen worden; mainen, sy haben des fug und recht gehapt, zu dem das inen der kaiser zugeschriben, sy sollen gemelten edelman hanthaben und nitt ledig 25 lassen byß uff deren von Nürnberg (deren find er sein

14 Erst am 13. Dezember 1544 konnte Blarer ein Exemplar, das ihm Frecht ausgeliehen hatte, Bullinger borgen; s. unten Nr. 2048, 1-3.
15 An Hans Welser; vgl. unten Nr. 2050, 13f. - Ein entsprechender Brief Blarers ist nicht bekannt.
16 Dass diese Beilage eher diesem Brief und nicht Brief Nr. 2048 (wie es Traugott Schieß in Blarer BW II 325f tat) zuzuordnen ist, geht aus folgenden Beobachtungen hervor: Die nachfolgend hier gedruckte Beilage trägt -im Gegensatz zu dem hier veröffentlichten Briefteil - eine Adresse und ein Siegel, währenddem Brief Nr. 2048 bereits mit einer Adresse und einem Siegel versehen ist; bei Abfassung dieser Beilage hatte Blarer noch nicht von Diethelm Röists Tod erfahren (s. unten Z. 72f), was wahrscheinlicher am 5. als am 13. Dezember 1544 ist; im kurzen Brief Nr. 2048 schreibt Blarer "nequeo plura", so dass die Zuordnung dieser gehaltvollen Beilage zu Brief Nr. 2048 unwahrscheinlich wird; in der vorliegenden Beilage (s. unten Z. 38-43) wusste Blarer noch nicht, dass Herzog Ulrich den Esslinger Jägern die Augen ausgestochen hatte, was er aber
am Ende seines Briefes Nr. 2048 hinzufügen konnte, so dass diese Beilage nicht für Brief Nr. 2048 verfasst worden sein kann; endlich geht aus der Angabe in Z. 44 hervor, dass der Brief nach dem 7. November verfasst worden sein muss; da aber Brief Nr. 2036 bereits eine Adresse und ein Siegel besitzt, ist die nachfolgend hier gedruckte Beilage einem nicht erhaltenen, nach dem 7. November und vor dem 5. Dezember 1544 verfassten Brief Blarers oder dem vorliegenden Brief vom 5. Dezember zuzuweisen.
17 Ansprüche.
18 Herzog Ulrich von Württemberg.
19 Schwäbisch Gmünd; s. oben Nr. 2030, 60f.
20 Siehe dazu oben Nr. 2036, Anm. 13, in fine.
21 gleich darauf.
22 Über diese zweite Gefangennahme von Esslinger Bürgern, die ebenfalls oben Nr. 2036, 15, angedeutet wird, s. ebd., Anm. 13.
23 Oben Nr. 2030, 53-63.
24 Hans Christoph von Absberg; s. oben Nr. 2030 mit Anm. 41.
25 frei.


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soll) vernügen 26 . Diewyl sy aber uff des hertzogen anlangen 27 den edelman nitt ledig lassen wellen, hat er inen wol 10 oder 12 burger gefangen. 28 Davon wirt man ouch handlen uff nechsten stett tag 29 etc.

Es hat ouch hertzog Ulrich yetz dem könig 30 widerum ein kloster eingerümpt daruber er allweg schirmherr gewesen; haist Künigsbrünn b 31 , darüber er bysanher alle verwaltung nach seinem einkomen gehapt hat und gehandelt wie in andern klöstern. Muß yetz das closter sampt zugehörigen dörffern 32 widerum päpistisch werden. Ist ain grosser jamer, wiewol die ainungsverwandten der Protestierenden 33 allso erkendt haben, er sölls thain 34 , diewyl man findt, das diß closter ouch allweg in den rychsanlagen angelegt worden. Aber wann diß ain gnugsam ansprach sein soll, so werden noch vyl ettliche clöster hingeben müssen, die sy eingenomen habend. In summa: Die sach facht an 35 allenthalb hincken, und zu besorgen, es seye wenig dapferkait und hertz by allen etc.

||730 Item, man will sagen, das der Frantzoß 36 seye ouch gar nitt wol mitt den aidgnossen zufriden; 37 hab ettlich angespeyen 38 , sy bettler geschollten; dann man spricht, der allt konig 39 seye nitt mehr so gantz gwaltig, die zwen jungen 40 nemind sich aller ding vyl an, und sagt man, die aidgnossen habend

b Randbemerkung Blarers: monasterium Regii Fontis.
26 bis zur Zufriedenstellung der Nürnberger, deren Feind er sein soll.
27 Aufforderung.
28 Vgl. oben Nr. 2030, 60f und Anm. 52.
29 Siehe dazu oben Nr. 2036 mit Anm. 11.
30 König Ferdinand I.
31 Das Kloster Königsbronn (Baden-Württemberg, Landkreis Heidenheim, Gemeinde Königsbronn) war eine Stiftung von König Albrecht I. von Österreich aus dem Jahr 1302 und schon im 15. Jahrhundert zweimal bei Württemberg gewesen. Herzog Ulrich von Württemberg konnte während des bayerischen Erbfolgekriegs 1504 mit der Herrschaft Heidenheim die Schutzvogtei über die drei Brenztalklöster Herbrechtingen, Anhausen und Königsbronn erwerben (vgl. Stuttgart, Landesarchiv Baden-Württemberg, Bestand A 495, Einführung). Am 7. Juli 1544 hatte König Ferdinand I. erklärt, "es sei weder sein noch des Kaisers Gemüt, ihre Familienstiftung zerfallen zu lassen und ihr Recht daran aufzugeben ... Erst am 19. Mai 1588 kam ein Vergleich zwischen Österreich
und Württemberg zustande, durch welchen ersteres gegen Übergabe des Klosters Paris im Elsass seinen Ansprüchen auf Königsbronn völlig entsagte" (Beschreibung des Oberamts Heidenheim, hg. von dem Königlich statistisch-topographischen Büreau, Stuttgart-Tübingen 1844, S. 251). Vgl. ferner RTA JR XV/2 907 mit Anm. 2; XV/4 1884f.
32 Zu den zum Kloster gehörenden Besitzungen und Gütern s. Beschreibung des Oberamts Heidenheim ... (wie oben in Anm. 31), S. 241-251.
33 Die Verbündeten des Schmalkaldischen Bundes; s. RTA JR XV/4 1865f. 1901. 2014.
34 tun.
35 fängt an.
36 König Franz I.
37 Vgl. EA IV/1d 433 a.
38 verspottet, verachtet.
39 Franz I. hatte im September 1544 sein 50. Lebensjahr vollendet.
40 Der Dauphin Heinrich (1519-1552), künftiger König Frankreichs, und Charles II. (1522-1545), Herzog von Orléans und Angoulême.


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desshalb dem konig geschriben 41 und wellen wissen, wie sy mitt im standen. Was daran seye, wurt die zyt zu erkennen geben, und ir werdt es yetzund wol wissen; wellt michs ouch bericht[en].

Meinem gunstigen Herrn Rösten wellt vyl dienst, grutz und gutz von mir sagen. 42

[Adresse darunter:]c Egregia valde pietate et doctrina viro d. Heinricho Bullingero, f[ratri] suo multum ob[servando]longeque chari[ssimo]. 43