Heinrich-Bullinger-Briefwechseledition, Universität Zürich © Heinrich Bullinger-Stiftung Arpa Bibliothek Textbreite Schriftgröße

[3119]

Ludwig Lavater an Bullinger
Paris,
Dienstag, 24. Januar 1548

Autograph: Zürich ZB, Ms F 42, 171 (Siegelspur) a Ungedruckt

[1] Weil Lavater weiß, dass sich Bullinger sehr für sein Studium [in Paris] interessiert, möchte er ihm nun darüber berichten, zum einen, weil er es ihm ja in seinem letzten Brief [nicht erhalten]versprochen hatte, zum anderen, weil Bullinger sicherlich auf ein Schreiben von ihm wartet. -[2]Es verhält sich also folgendermaßen: Der wortgewandte Pierre de La Ramée behandelt neuerdings mit dem achten Buch von Quintilians Institutio oratoria das Wesentliche für einen Redner, nämlich die Rhetorik. Und im Wechsel damit

e Hier und unten unleserlich durch Tintenfleck. -
a Ohne Schnitt- oder Nadelstichspuren.
31 Unbekannt.
32 Zur Verstimmung zwischen Karl V. und Paul III. sowie zum vertagten Konzil s. zuletzt Nr. 3113,4-6.
33 an inn gemutet habe: von ihm verlangt habe.
34 Bologna.
35 wählen.
36 Jene, die sich bereits auf dem Reichstag
über die Religionsfrage berieten; zum Interim s. Nr. 3111, Anm. 13.
37 für und für: immer wieder.
38 nympt ... vyl volcks an: wirbt viele Soldaten an.
39 mit Sicherheit.
40 Siehe Nr. 3105 mit Anm. 10.


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hat er begonnen, in sehr verständlicher und sorgfältiger Weise eine Vorlesung über das erste Buch der Atticusbriefe von Cicero zu halten. La Ramée schien Lavater für die Verfeinerung seines Stils vor allen anderen Lehrern hörenswert zu sein. -[3] Griechisch lernt er bei Barthelemy Alexandre, der über Galens Schrift zu den freien Künsten liest. -[4] Und weil Omer Talon sich an den "Dialecticae institutiones" von La Ramée orientiert (die mit einschlägigen Beispielen neu herausgegeben wurden), besuchte Lavater bis anhin dessen Vorlesung, um so die aristotelische Lehre besser begreifen zu können. -[5] In wenigen Tagen werden La Ramée und Talon ihre philosophische Vorlesungsreihe beginnen, die sie "philosophisches Curriculum" nennen. Lavater hört nun auch die Vorlesung von Francesco Vimercato zum zweiten Buch der Meteorologica des Aristoteles. Nach Möglichkeit besucht er bald auch noch die Vorlesung zur aristotelischen Politik (oder Ethik) und zu den mathematischen Grundlagen. Jedoch so, dass ihn die Fülle an Veranstaltungen nicht durcheinander bringt! -[6]Nach dem Winter will er sich mit voller Hingabe und mit größtem Eifer den Sprachwissenschaften widmen. Er hofft, dass er sich so verbessern wird, zumal er sehr gebildete Lehrer in allen freien Künsten hat. -[7]Neuigkeiten gibt es ansonsten nicht, es sei denn, Bullinger wisse noch nicht, dass am 11. Januar [1548] irgendein sogenannter Lutheraner [Sainctin Nivet] unter großem Gelächter und Beifall der Zuschauer bei lebendigem Leibe auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurde. Der Pariser Bischof Jean du Bellay hat vor einigen Tagen den Fleischverzehr an Samstagen erlaubt. Der berühmte Mediziner Jacobus Sylvius wurde als königlicher Professor [an das Collège de France]berufen. Weiteres hat Lavater nicht zu berichten. Bullinger möge den Brief trotz der Kürze wohlwollend annehmen. Lavater hätte ihm mehr geschrieben, wenn es denn mehr zu berichten gäbe. -[8]Möge Gott Bullinger behüten. Grüße an Lavaters Lehrer in Zürich, Bullingers Frau Anna [geb. Adlischwyler]und dessen ganze Familie.

S.D. Studii nostri, 1 quod tibi summae cure esse scio, optime mecaenas, cuiusmodi ratio sit, hoc tempore ad te scribendum putavi, partim quia superioribus literis 2 me occasione oblata uberius de meis ad te rationibus scripturum promisi, partim quod literas meas a te expectari certo sciam.

Studiorum igitur haec est adhuc informata ratio: Petrus Ramus 3 homo longe

1 Lavater hatte sich gegen den Willen seines Vaters, des Zürcher Bürgermeisters Hans Rudolf Lavater, und gegen den Wunsch Bullingers durchgesetzt, sein in Straßburg begonnenes Studium in Paris fortzusetzen. Nach einem Aufenthalt in Basel, wo er Oswald Myconius traf erreichte er am 29. November 1547 Paris; s. HBBW XV, Nr. 2262, Anm. 23; XX, Nr. 3035, Anm. 29.
2 Nicht erhalten.
3 Pierre de La Ramée (Petrus Ramus), geb. 1515, gest. 1572, entstammte einem verarmten Adelshaus aus der Picardie. Nach seinem Studium in Paris (ab 1527) wurde er im Jahr
1536 zum Magister artium promoviert. Er kritisierte in seinen Schriften den universitären, von der Scholastik geprägten Umgang mit dem Corpus Aristotelicum und stellte diesem einen neuen Methodenbegriff entgegen. Der hieraus entstandene Konflikt mit vielen Pariser Gelehrten gipfelte im März 1544 in einem königlichen Dekret, das den Verkauf seiner Bücher untersagte. Er selbst durfte nur noch Mathematik an der Universität unterrichten. La Ramée umging das königliche Verbot, indem er seine Schriften unter dem Namen seines Kollegen Omer Talon (geb. ca. 1510, gest. 1562) veröffentlichte. Ein


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eloquentissimus nuper librum octavum Quintiliani 4 , qui de praecipua oratoris parte, eloquutione, tractat, et librum primum epistolarum Ciceronis Ad Atticum 5 magna facilitate et diligentia alternatim interpretari aggressus est. Hune mihi praeter caeteros ad expoliendum stylum audiendum putavi.

In Graecis habeo Bartholomaeum Alexandrum 6 , qui Galeni orationem, qua ad liberalium artium studia iuvenes hortatus, 7 exponit.

Et quia suas praelectiones ad Petri Rami Dialectica[s]b institutiones 8 (quae nova quadam ratione conscriptae et insignibus exemplis illustrate sunt) accommodant, Audomari Talaei 9 lectionem in dialecticis hactenus audivi, ut maiori postea animi utilitate Aristotelicam doctrinam possim cognoscere.

Nam hi duo paucis post diebus curriculum, ut vocant, philosophic interpretari incipient. 10 Librum secundum Meteororum Aristotelis 11 sub Francisco Vicomercato 12

b Textverlust durch Beschädigung des Papiers.
ehemaliger Mitschüler von La Ramée, Kardinal Charles de Lorraine (Guise), konnte jedoch nach der Thronbesteigung von Heinrich II. von Frankreich im Jahr 1547 bei diesem die Aufhebung des Publikationsverbotes und der Lehreinschränkung erwirken. Gemeinsam mit Talon und dem Gräzisten Barthelemy Alexandre wandte La Ramée seine pädagogisch ausgerichtete Methode der Argumentation und Beredsamkeit im Unterricht an. Etwa gegen 1562 neigte er sich dem Protestantismus zu und 1570, nach einer Vortragsreise durch die Schweiz und Süddeutschland bekannte er sich öffentlich zu seinem Glauben, was ihm ein erneutes, jedoch nur vorübergehendes Lehrverbot in Paris einbrachte. La Ramée wurde in der Bartholomäusnacht am 26. August 1572 ermordet. Zwischen La Ramée und Bullinger sind drei Briefe an Bullinger und zwei Briefe an La Ramée aus den Jahren 1571-1572 erhalten; s. Zürich StA, E II 381,1300f. 1328. 1334. 1346; E II 342,639-64 1; BBKL VII 1307-13 12 (mit weiterer Lit.); Wilhelm Riss, Petrus Ramus und sein Verhältnis zur Schultradition, in: Revue des Sciences philosophiques et théologiques 70 (1986), S. 49-65; August Döring, Johann Lambach und das Gymnasium zu Dortmund von 1543-1582. Ein Beitrag zur Geschichte des Humanismus und seines Schulwesens und der Reformation, Berlin 1875, S. 33. -Zu La
Ramées Auseinandersetzung mit den Theologen der Sorbonne s. auch Henrich, Myconius BW 1007, Nr. 1122.
4 Quintilian, Institutio oratoria, 8. - Bullinger, der während seiner Studienzeit in Emmerich am Rhein und in Köln die von Lavater genannten Werke von Quintilian (Institutio oratoria), Cicero (Epistolae) und Aristoteles (Meteorologica und De anima) ebenfalls gelesen hatte, dürfte mit dieser Lektüreauswahl zufrieden gewesen sein; s. HBD 3-5.
5 Cicero, Epistulae ad Atticum, 1.
6 Barthelemy Alexandre. - Zu seiner Zusammenarbeit mit La Ramée s. oben Anm. 3.
7 Galen, Adhortatio ad artes addiscendas.
8 Pierre de La Ramée, Dialecticae institutiones ad celeberrimam et illustrissimarn Lutetiae Parisiorum Academiam, Paris 1543 (USTC 140867).
9 Omer Talon. - Zu seiner Zusammenarbeit mit La Ramée s. oben Anm. 3.
10 Das hier angesprochene "philosophische Curriculum" sollte wohl insgesamt zwei Jahre in Anspruch nehmen; s. Nr. 3136,26.
11 Aristoteles, Meteorologica, 2.
12 Francesco Vimercato, geb. 1512, gest. 1571, kam nach seinem Studium an italienischen Universitäten 1540 an die Universität Paris. Wenige Jahre später wurde er zum Lektor der griechischen und lateinischen Philosophie berufen. - Er veröffentliche 1556 zum Thema


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nuper audire coepi. Mox, si dabitur, addarn politica sive ethica Aristotelicarn et mathematum principia. Ita tarnen, ne lectionurn turba meipsum irnpediam.

Ego superatis intolerandis hyemis frigoribus in omni munere literatorio [perstri] ngendo c summam adhibebo diligentiam. Ita enirn quiddam spero mihi profici, praesertim curn in omnibus humanioribus disciplinis doctissimos praeceptores habearn.

Novi apud nos habetur nihil, nisi tibi novum et inauditum sit, quod 11. ianuarii quidarn lutheranus 13 ut vocant, magno astantiurn risu et applausu vivus combustus est. Episcopus Parisiensis 14 aliquot iam diebus sabathi liberum carnis esum permisit. lacobus Sylvius 15 , rnedicus clarissimus, nuper in publicum sive regium professorem electus est. Praeterea te dignum habeo nihil. Brevitate epistolae rogo, boni consulas. Plura hoc tempore ad ||171v. te dedissem, nisi rerum novarum inopia obstitisset.

Dominus te diu nobis servet incolumen. Praeceptores 16 meos, coniugem tuam honestissimam totamque familiam plurimum meis verbis salutare ne dedigneris. Lutetie Parisiorum ex musaeo nostro, 9. calendis februarii anno 1548. Tuus ex animo Ludovicus Lavatherus.

[Adresse darunter:] Clarissimo viro d. Henrico Bullingero, Tigurinae ecclesie antistiti, patri suo colendo. Tiguri. 17

c Am Rande nachgetragen mit Textverlust durch Papierverlust.
seiner Vorlesung in Paris die Schrift "In quatuor libros Aristotelis meteorologicorum" (USTC 152078); s. André Tuilier, Francois Vicomercato et l'enseignement de la philosophie naturelle d'Aristote, in: Histoire de College de France, Bd. 1: La création, 1530-1560, hg. y. André Tuilier, Paris 2006, S. 353-367.
13 Vermutlich ist hier der aus Meaux stammende Sainctin Nivet gemeint, dessen Todesdatum nun hier zum ersten Mal bekannt wäre. Bis anhin wusste man lediglich, dass er 1548 und vermutlich noch vor Octavien Blondel, der am 4. Februar 1548 verbrannt wurde, in Paris hingerichtet worden war; s. Nr. 3109, Anm. 7; Jean Crespin, Histoire des martyrs, hg. y. Daniel Benoit, Bd. 1, Toulouse 1885, S. 527; Théodore de Beze, Histoire ecclésiastique des Eglises réformées au Royaume de France, hg. y. Wilhelm Baum und Eduard Cunitz, Bd. 1, Paris 1883, S. 88.
14 Jean du Bellay, geb. 1492/1498, gest. 1560; s. HBBW IV, Nr. 317, Anm. 31. -Zu du Bellays angeblicher lutherischen Gesinnung s. HBBW IV, Nr. 352,25f und Nr. 497,25-29.
15 Jacobus Sylvius (Jacques Dubois), geb. 1478, gest. 1555; s. Biograpisches Lexikon der hervorragenden Ärzte aller Zeiten und Völker, hg. y. August Hirsch, Bd. 5, Wien; Leipzig 1887, S. 595f s.v. Sylvius, Jacobus; Jean-Pierre Niceron, Mémoires pour servir a l'histoire des hommes illustres, Bd. 29, Paris 1734, S. 89-105. - Die Wahl als Nachfolger des königlichen Professors Vidus Vidius (Guido Guidi) sollte Sylvius erst 1550 annehmen; s. Niceron, aaO, S. 93.
16 Anna, geb. Adlischwyler.
17 Der Überbringer des vorliegenden Briefes war vermutlich der Zürcher Großrat Ludwig Hoesch; s. Nr. 3136,36f mit Anm. 24.