Heinrich-Bullinger-Briefwechseledition, Universität Zürich © Heinrich Bullinger-Stiftung Arpa Bibliothek Textbreite Schriftgröße

[2318]

Joachim Vadian an
Bullinger
St. Gallen,
[erste Hälfte Januar] 1546

Abschrift von Johann Rudolf Stumpf: Zürich StA, E II 351, 30v.-34v. a Druck: Vadian BW VI 487-493, Nr. 1442; Vadian DHS II LXIV—LXVIII

Vadian schickt endlich die [biographischen Notizen seiner "Kleinen Chronik" zu den]Äbten [St. Gallens], die mit der Zeit von Vätern und Lehrern [des Glaubens] zu Monarchen wurden. Die Missetaten dieser Äbte mussten vermerkt werden, doch gab Vadian zugleich zu verstehen, dass man die Äbte dulden und sogar als Magnaten anerkennen würde, wenn sich diese um einen [moralisch] strengen Lebenswandel, um eine gute Ausbildung und um die richtige [Christen]lehre bemüht hätten und sich nicht aus Gier der Lehre der heilbringenden Werke zugewandt hätten. [In seinem Bericht] stellte Vadian vieles in Frage, überließ aber [die Schlussfolgerungen] dem Urteil seiner Leser. Doch gab er stets klar zu verstehen, worauf er mit seiner Arbeit abzielte, auch wenn er dies auf schlichte und vorsichtige Weise tat, um dabei Andersgläubige nicht vor den Kopf zu stoßen. Vadian bemühte sich ferner, dem ungebildeten Leser die Geschichte des Thurgaus 2 darzustellen und dabei auch weniger Bekanntes über den Ursprung St. Gallens und des Appenzellerlandes aus verschiedenen Quellen festzuhalten. Dadurch wird nun so manches bei den [alten] Chronisten deutlicher. Vadian hat bewusst einige deutsche Namen anders geschrieben als üblich, um dadurch deren ursprüngliche Bedeutung ersichtlich zu machen. So schreibt man z.B. Ulrich, was einige von Huldreich, andere von Wohlreich ableiten. Stets haben sachliche Erwägungen sein Schreiben bestimmt, so dass er sich nur selten in Spitzfindigkeiten verlor. Ein künftiger Abschreiber sollte [Vadians Manuskript] sehr sorgfältig abschreiben. [Bullinger], der andauernd von Amtspflichten unterbrochen wird, hätte guten Grund, andere mit dieser Abschrift zu beauftragen. Da Vadian mit Bullinger und [Johannes] Stumpf befreundet ist, erlaubt er sich die Bemerkung, dass die Geschichte des älteren Thurgaus von der Zeit des Abtes Konrad [von Bussnang, d.h. von 1226] an bis zu jener [des Abtes] Diethelm [Blarer von Wartensee, d.h. bis 1532] noch nie zuvor mit solcher Sorgfalt aus den Quellen zusammengetragen worden ist. Für die noch ältere Zeit von [Abt] Othmar [d.h. von 719/20] bis zum Tode [1239] des [Abtes] Konrad [von Bussnang]gibt es bereits einige lateinische [Darstellungen]. [Bullinger und Stumpf] werden

a Das letzte Blatt des Originals wurde 1951 in München von einem anonym gebliebenen Schweizer Sammler ersteigert. Das verkaufte Blatt enthielt den Briefschluss ab "Acta temporum nostrorum admodum amplius non produxi" (Vadian BW VI 492, Z. 19), die Unterschrift und die Adresse; s. Autographen aus schwäbischem Adelsbesitz. Auktion, 5./6. Oktober 1951 in München, Karl und Faber, München, und J.A. Stargardt, Eutin in Holstein, s.n. [1951], S. 88, Nr. 598.
1 Die Übersendung dieses Briefes hatte Vadian in seinem Brief an Bullinger vom 30. Dezember 1545 (HBBW XV, Nr. 2317) für den "1. Dezember" [sic] angekündigt. In Bullingers Brief vom 5. Januar 1546 (Nr. 2326) ist vorliegender Brief noch nicht erwähnt. Da Vadians Brief vom 12. Februar (Nr. 2352) sich sehr wahrscheinlich auf den nicht genau datierten Brief Vadians von Anfang Februar (Nr. 2342) bezieht und Letzterer
wiederum den vorliegenden Brief voraussetzt, wird dieser in der ersten Hälfte Januar 1546 anzusetzen sein.
2 Mit "Thurgau" ist das Gebiet südlich des Bodensees gemeint, welches die heutigen Kantone Appenzell, St. Gallen und Thurgau, den nördlichen Teil des Kantons Zürich (bis nach Winterthur und Kyburg) und den Kanton Schaffhausen umfasst; s. HBBW XV 309, Anm. 2.


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selbst feststellen können, was diese gegenüber der seinen wert sind, zumal er in seinem Bericht diese Darstellungen nicht nachahmte, sondern vielmehr alte Quellen der Klosterbibliothek [von St. Gallen]heranzog, u.a. die auf Deutsch verfassten Chroniken der [Abtei Wilhelm [von Montfort], Berchtold [von Falkenstein] und Georg [von Wildenstein]. Zwar sind diese Chroniken [geschichtswissenschaftlich] schwach, doch liefern sie nützliche Angaben zur Vergangenheit. Schließlich ist Vadian der Einzige, der, um die Geschichte der letzten hundert Jahre darzustellen, die Schriften des [Abtes] Kuno [von Stoffeln] sowie die der zwei [Äbte]Heinrich [Heinrich III. von Gundelfingen und Heinrich IV. von Mansdorf] (beide als Abt von der Konstanzer Synode eingesetzt) und der [Äbte]Kaspar [von Breitenlandenberg], Wolrich [Ulrich VIII. Rösch], Gotthard [Giel von Glattburg], Franz [von Gaisberg] und Kilian [Germann] benutzte. Er unternahm die vorliegende Arbeit, um [Bullinger und Stumpf]behilflich zu sein; doch ist dies nicht der einzige Grund. Trotz seiner unzähligen Geschäfte wurde er dazu auch von der Liebe zur Wahrheit und zum Vaterland angeregt. [Bullinger und Stumpf] sollen nun das Ergebnis bewerten; ist es nützlich, soll es veröffentlicht, wenn nicht, zurückgeschickt werden. Vadian hätte sich [weniger gebildete] Leser als Bullinger und Stumpf gewünscht. Beim Schreiben kam ihm oft die Stelle bei Plinius d.A. in den Sinn, der in der Einleitung zu seiner "Naturalis historia" schrieb, dass er sich als Leser nicht den [gelehrten Redner Manius] Persius, sondern [den unbekannten] Laelius Decimus wünschte. Vadian hat seine Vaterstadt [St. Gallen] ziemlich ausführlich beschrieben und dabei ihre Freiheit gegenüber den Äbten belegt. Gegen diese Freiheit werden wohl weder Bullinger noch Stumpf [Christoph] Froschauer oder der Zürcher Rat etwas einzuwenden haben. Bei den Religionsangelegenheiten hielt Vadian sich sehr zurück. In Anbetracht seines Amtes ist es nämlich nicht seine Aufgabe, den Irrtum der Äbte zu widerlegen, zumal auch im [Schutz- und Schirmvertrag der Abtei St. Gallen mit den vier Orten Zürich, Luzern, Schwyz und Glarus aus dem Jahr 1451]3 die Religion ausdrücklich ausgenommen und dem römischen Stuhl untergeordnet wurde; so auch im Hauptmannschafts[vertrag von 1479 4 mit den gleichen Orten], durch den die [Hauptmänner der Schirmorte] keine Befugnis über Religionsangelegenheiten von den Äbten erlangten. Dagegen haben sich die Äbte mit dem ewig gültigen [Bundesbrief von 1451] in äußeren Angelegenheiten den vier Orten unterstellt. Vadian hat bei seiner [biographischen Darstellung der Äbte]gelegentlich Kaiser und Könige absichtlich erwähnt, auch wenn er wusste, dass Stumpf diese separat behandeln würde. Durch die Zusammenhänge, die er zwischen den Handlungen der Äbte und den sonstigen Ereignissen der Zeit herstellte, wurde seine Schilderung lebendiger. Aus ähnlichen Gründen wurden auch Bischöfe erwähnt, die bekanntlich von Untertanen der Kaiser in Rom allmählich zu deren Bedrängern wurden und diese sogar aus Italien verjagten. Auch hier hielt Vadian sich zurück und offenbarte nicht alle Tücken der Geistlichen, um beim Volk keine Angst auszulösen und es zu einer vorsichtigeren Verteidigung der Frömmigkeit zu veranlassen. Man sollte Stumpf einen Nachfolger [in Stammheim] geben, damit er sich völlig [seiner "Eidgenössischen Chronik"] widmen könnte. Das wäre nicht kostspielig. [Johannes]Kessler möchte gerne Vadians Abhandlung "Von dem Mönchsstand"5 separat publizieren, auch wenn diese in Stumpfs Chronik erscheinen sollte. Jedoch müssen [Bullinger und Stumpf] ihr Einverständnis damit erklären. In der Vorrede zu seiner Chronik soll Stumpf betonen, dass seine Chronik aus Liebe zur Wahrheit und nicht aus polemischen Gründen verfasst wurde, und dass es jedem Leser frei steht, sich für den einen oder den anderen Glauben zu entscheiden. Die ersten Lagen der [mit diesem Brief nach Zürich geschickten]Handschrift 6 sowie auch deren letzten Lagen hat Vadian [aus früheren Fassungen] ins Reine geschrieben. Er hatte keinen Grund, die mittleren Lagen, die die Zeit von [1226 bis 1491, d.h. von Abt] Konrad [von Bussnang] bis zu [Abt] Ulrich [VIII. Rösch], behandeln, neu zu schreiben, brachte aber dort [Ergänzungen und Korrekturen an] und hofft, dass man
3 Text in EA II 864-866, Nr. 29.
4 Text in Vadian Grosse Chronik II 643—645.
5 Siehe HBBW XV 563f. 621.
6 Heute die Handschrift Ms 44 der Kantonsbibliothek St. Gallen (Vadiana).


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beim Druck damit zurecht kommen werde 7 Seine Arbeit enthält viele Details (so z.B. die Reise des Abtes Kaspar [von Breitenlandenberg] mit dem Klosterpfleger Ulrich [VIII. von Rösch] nach Rom), die zeigen, wie die Mönche von Gelüsten getrieben waren und sich mit Nebensächlichkeiten abgaben. Die Aufzeichnungen über Abt Franz [von Gaisberg] hat Vadian auf annalenartige Weise verfasst, und dies hat seinen Grund. Er möchte nicht, dass man [in seinem Werk]irgendetwas ändert oder auslässt (besonders im Falle des Ungeheuers Ulrich [VIII. von Rösch]), auch wenn er grundsätzlich nicht gegen einige formelle Änderungen wäre und letztlich willens ist, sich dem Urteil [Bullingers und Stumpfs] zu unterstellen. Seine Darstellungen reichen nur bis ins zweite Jahr des [Abtes]Diethelm, [Blarer von Wartensee], d.h. bis ins Jahr 1532. Es wäre aber gut, wenn man einige Worte zu den letzten [Kappeler] Kriegen [von 1529 und 1531] verfassen würde, zumal die Erinnerung an diese Kriege noch gegenwärtig ist und die damit verbundenen Verträge noch vorhanden sind, und es ferner wünschenswert wäre, dass die Innerschweizer den [Protestanten] mit einer Darstellung nicht zuvorkämen. 8 Bei der Erläuterung der Hintergründe dieser Kriege könnte man der Nachwelt anschaulich machen, dass die [Protestanten] gute Gründe dafür hatten, diese Kriege zu unternehmen. Wenn man solch eine Ausführung maßvoll gestaltet, ist sogar zu hoffen, dass diese auch den Gegnern, den ehemaligen Freunden und Verbündeten (besonders solchen, die sich von der Religion [der Protestanten] angezogen fühlen), gefallen würde. Eine derartige Darstellung sollte jetzt verfasst, doch erst viel später veröffentlicht werden. Stumpf wäre der geeignete Mann dafür, und Vadian wäre gewillt (sofern er noch länger lebt und die Zeit dafür findet), ihm zu helfen. Vadian fragt sich schon, wie [Bullinger und Stumpf] mit seiner ziemlich langen, doch nützlichen Darstellung der Äbte verfahren werden. Sollten sie daraus nur Auszüge verwerten, bittet Vadian, dass davon Abschriften angefertigt und ihm die Handschrift zurückgeschickt werde. In diesem Fall wäre es schön, wenn die Aufzeichnungen über die Zeit von Abt Kuno [von Stoffeln, d.h. von 1379] an, ja sogar von [dessen Vorgänger] Georg [von Wildenstein, d.h. von 1360] an, bis auf Diethelm [Blarer von Wartensee] übernommen wären. Sollten [Bullinger und Stumpf] aber die [ganze Arbeit] drucken lassen, bräuchte Vadian seine Handschrift nicht mehr.