Heinrich-Bullinger-Briefwechseledition, Universität Zürich © Heinrich Bullinger-Stiftung Arpa Bibliothek Textbreite Schriftgröße

[2969]

Bullinger
an Johannes Haller
Zürich,
28. Juli 1547

Abschrift von unbekannter Hand (17. Jh.) a : Zürich ZB, Ms F 46, 596 Ungedruckt

[1]Bullinger schreibt erneut mit Betrübnis. Sowohl seine Mahnungen als auch Hallers Brief [nicht erhalten] und Thoman Rumans Bericht [vor dem Zürcher Rat] haben Hallers Rückberufung aus Augsburg nicht bewirken können! Doch auch jetzt steckt kein böser Wille dahinter. Vielmehr hofft ein Teil des erhabenen Rates, dass Haller noch vieles bewirken kann, und zählt auf dessen Loyalität und besonders auf Gottes Schutz. Zudem legen die Zürcher Räte viel Wert auf die im Schreiben des Augsburger Rates [vom 24. Mai]gegebenen Versprechen. Demzufolge haben sie die Augsburger [mit einem Brief vom 28. Juli] an ihre Zusicherung erinnert,

a Mit Randbemerkungen und Unterstreichungen von Johann Heinrich Hottinger.
Nr. 2959 an Joachim Vadian. Ob Blarer damals, genauso wie Vadian, auch noch das makkaronische, möglicherweise von Bullinger selbst verfasste (s. dazu Nr. 2959, Anm. 1) Gegen-Gedicht erhielt, muss offen bleiben; so auch die Frage, ob Blarer die im vorliegenden Brief angesprochenen "carmina" schon diesem oder erst einem späteren Brief beigelegt hat.
47 Es handelt sich um den berühmten Astronomen, Mathematiker und Arzt Joachim Rheticus (1514-1574), in Selbst-Zeugnissen auch Georgius Joachimus Rheticus und in Universitätsmatrikeln Georg Joachim "de Porris", verdeutscht "von Lauchen", genannt. Er war vermutlich kurz zuvor in Konstanz angekommen. Er litt damals an einer nicht näher bestimmbaren psychischen Krankheit (Schizophrenie?), die von den Zeitgenossen als teuflische Besessenheit gedeutet wurde. Aus einem Brief von Kaspar Brusch an Joachim Camerarius von November 1547 geht hervor, dass Rheticus während seiner Krankheit von einem starken religiösen Affekt befallen wurde, der eine intensive Beschäftigung mit deutschen und lateinischen Büchern theologischen und erbaulichen Inhalts (Melanchthon,
Luther, Cruciger) nach sich zog; s. Karl Heinz Burmeister, Georg Joachim Rhetikus (1514-1574). Eine Bio-Bibliographie, Bd. 1: Humanist und Wegbereiter der Moderne, Wiesbaden 1967, S. 95-97; Bd. 2: Briefwechsel, Wiesbaden 1968, S. 73-77 (Nr. 19): ders., Magister Rheticus und seine Schulgesellen. Konstanz/München 2015, S. 47-52. Blarers Brief vom 2. Dezember 1547 (Nr. 3088) lässt sich entnehmen, dass Rhetieus während etwa drei Monaten Mathematik in Konstanz unterrichtet hatte und den Brief nach Zürich mitnahm, wo er vorhatte, bei Konrad Gessner Medizin zu studieren. Aus dem späteren Briefwechsel zwischen Blarer und Bullinger wird deutlich, dass sich Rheticus in Zürich weiter erholte. Im Februar 1548 hielt er sich in Basel auf. Ob er von dort aus erneut nach Zürich zurückkehrte, lässt sich nicht mit Bestimmtheit sagen; s. Burmeister, aaO, Bd. 1, S. 99.
1 Datum und Adresse wurden vom Abschreiber durch einen Vermerk am Briefanfang ersetzt: Idem [=Bullinger] eidem [= Haller]. Tiguro Augustam, 28. iuni 1547.


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Haller nicht im Stich zu lassen. -[2]Bullinger wiederholt seine Ermahnung aus seinem letzten Brief [Nr. 2958], den Haller hoffentlich aus St. Gallen durch Vadian erhalten hat. Vielleicht will ja Gott, dass Haller vor Kaiser Karl V. und den anderen weltlichen Herrschern Zeugnis für Christus und die Wahrheit ablegt. Allerdings soll Haller Gott nicht herausfordern und gegebenenfalls wie Christus und Paulus die Flucht ergreifen, doch nicht auf überstürzte Weise oder aus leichtfertigen Motiven. Er sei tapfer und standhaft! Er weiß ja, wo die Rettung zu suchen ist. Die Feinde sind zwar eloquent, schlau und vom Glück verwöhnt. Aber Christus, der Sieger, sagt: Keiner wird euch widersprechen können, wenn der Geist meines Vaters durch euch spricht. Haller bete, und sei so klug wie die Schlangen und ohne Falsch wie die Tauben! Bestimmt kommen Haller auch die anderen Aussagen Christi im Matthäus-Evangelium in den Sinn. -[3] Dies in Kürze, da Bullinger morgen predigen muss. Die Ratssitzung ging erst um fünf Uhr [nachmittags] zu Ende, und der Bote [Andreas Muller]sagte nach dem Abendessen, dass er schon bei Tagesanbruch aufbrechen wolle. Haller soll weiterhin gewissenhaft brieflich Bericht erstatten und seine Heimat treu warnen, falls er von Machenschaften gegen diese erfahren sollte. Bullinger ist ganz der Seine! -[4]Gruß. Michael Keller und Wolfgang Musculus dürfen wissen, dass Bullingers Haus ihnen offensteht. Er konnte nicht an sie schreiben. Man wird für die Augsburger beten. Geschrieben gegen neun Uhr abends.

Gratiam et pacem. Rursus 2 non sine dolore scribo tuae pietati. Nam iterum tua scripta 3 nihil impetrarunt. Nihil mea admonitio effecit! Nihil potuit Romani 4 expositio! Id ne nunc quidem malevolentiae tribuero. Sperat enim pars amplissimi senatus te permultum effecturum. 5 Ita fidit tuae integritati, inprimis autem gratiae domini. Deinde scripta clarissimi senatus Augustani 6 et pollicitationes permultum valent. Unde iam pollicitationis praestitae aut promissae venus admonentur, 7 ne te negligant aut perdant.

Ego quae b proximis literis 8 , quas te recepisse spero (Sangallum enim d. Vadiano miseram) c9 , monui, rursus inculco: Forte domino sic visum est, ut

b In der Vorlage pro. -
c Klammern ergänzt.
2 Bullinger bezieht sich hier auf seinen Brief vom 30. Mai (Nr. 2917), in dem er schon ein erstes Mal bedauerte, dass Haller vom Zürcher Rat nicht zurückberufen wurde.
3 Hallers kurzer, nicht mehr erhaltener Brief an den Zürcher Rat, den er am 22. Juli dem nach Zürich zurückkehrenden (Hans) Thoman Ruman (Römer) anvertraut hatte; s. Nr. 2962,55f.
4 Ruman. - Er war am 22. Juli aus Augsburg abgereist; s. Nr. 2951, Anm. 1. Also hat er gleich nach seiner Ankunft in Zürich den Rat über die Lage der Augsburger und Hallers informiert.
5 Der Zürcher Rat schrieb am 28. Juli an Haller und erklärte, dass er den Wunsch der Augsburger, ihn noch behalten zu dürfen, nicht abschlagen wolle, sie aber ermahnen werde, Hallers Schutz zu gewährleisten. - Am selben Tag verfasste der Zürcher Rat auch ein Schreiben an
den Augsburger Rat mit der Bitte, Haller aufgrund der Gefahr durch die kaiserlichen Besatzungstruppen nicht zu lange in Augsburg zu behalten, sofern seine Sicherheit nicht garantiert werden könne. sondern ihn (auch vor Ablauf der zwei Jahre) zu beurlauben und ihm die Heimkehr nach Zürich zu gestatten. Beide Briefe sind bei Scheurer, Haller 492-496, abgedruckt. Vgl. ferner Roth, Augsburg III 480; Bähler, Haller 65f.
6 Angespielt wird hier auf den Brief des Augsburger Rats an den Zürcher Rat vom 24. Mai; s. Nr. 2908, Anm. 3.
7 Mit dem oben in Anm. 5 erwähnten Brief.
8 Gemeint ist Bullingers Brief Nr. 2958 vom 20. Juli.
9 Ein Begleitschreiben zu dieser Sendung von Bullinger an Vadian ist nicht bekannt. Vadian bestätigte aber in seinem Brief vom 1. August (Nr. 2975), den


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reclamantibus nobis et omnibus modis, quo revoceris, annitentibus tu testimonium feras Christo et veritati coram caesare 10 , regibus et principibus seculi. 11 Interim nob, ut tentés dominum. Scis ipsum dominum lesum, nedum Paulum non raro sibi fuga consuluisse. 12 Nolim tamen eam esse praecipitem, inexpensam 13 , levem. 14 Vide, ut sis fortis et constans! Scis, unde sit auxilium velle et posse. 15 In caelos eleva cor tuum et animam tuam! 16 Causam nosti esse optimam. Adversarii licet sint satis instructi loquentia, sophismatibus et fortuna secunda. Vicit tamen 17 qui dixit: Non resistent vobis d omnes, qui contradixerint vobis. 18 Non enim vos estis loquentes, si spiritus patris mei loquitur per vos. 19 Ora dominum. Sis prudens veluti serpens, et columbae instar simplex 20 . Occurrunt modo reliqua, sat scio, quae dominus per caetera apud Matthaeum dicit. 21

Ego cogor esse brevis. Nam hora 5. demum surrexit senatus. Tabellio 22 se cum die abiturum dicit a coena. Cogor autem eras 23 concionari. Oro, ut diligenter rescribas, neque negligas patriam tuam, siquidem contra illam aliquid fuerit consultatum. Totus tuus sum! Me ut tuo fruaris licet!

Vale. Cellario 24 et Musculo 25 dices meas aedes illis patere et omnia mea me illis offerre. 26 Salutabis amicissime utrumque. Non licuit illis scribere. Orabimus pro vobis dominum. Circa nonam horam noctis.

Totus tuus H. Bullingerus.

[Ohne Adresse.]

d Der Kopist des 17. fits, hat wohl hier und fünf Worte weiter Bullingers Abkürzung für "vobis" als nobis aufgelöst, zumal Bit/linger in beiden Fällen das gleiche Schriftbild verwendet, in dem sich "n" und "v" nicht unterscheiden lassen. Das zweite, korrekt wiedergegebene Zitat stützt die hier vorgenommene Korrektur.
Brief Bullingers an Haller einem zuverlässigen Boten anvertraut zu haben, und drückte seine Hoffnung aus, dass der Brief unterdessen angekommen sei.
10 Karl V.
11 Vgl. Apg 9, 15; 27, 24. -Vgl. auch Nr. 2958,11-13.
12 Vgl. Nr. 2958,24-26, und die dort aufgelisteten Bibelstellen.
13 unbedacht; vgl. Hoven 280.
14 Vgl. Nr. 2958,26-28.
15 Vgl. Ps 121 (Vulg. 120).
16 Vgl. Ps 25 (Vuig. 24), 1.
17 Joh 16, 33.
18 Vgl. Lk 21, 15.
19 Mk 13, 11.
20 Mt 10, 16.
21 Gemeint ist vermutlich Mt 10. 16-33.
22 Der Zürcher Stadtbote Andreas (Andres)
Müller; s. Zürich StA, F III 32, Seckelamtsrechnungen 1547/48, S. 51.
23 Es war ein Freitag. - In diesen Jahren hielt Bullinger in der Regel die Frühpredigten vom Sonntag, Dienstag und Freitag; s. Fritz Büsser, Bullinger - der Prediger, in: Wurzeln der Reformation in Zürich. Zum 500. Geburtstag des Reformators Huldrych Zwingli, Leiden 1985, S. 143. Vom 22. August 1546 bis 22. Juni 1548 predigte er freitags über 1Kön; dienstags vom 26. Juli 1547 bis 24. Januar 1548 über den Propheten Sacharja; sonntags vom 20. Juni 1546 bis zum 8. Juli 1548 über die Apostelgeschichte; s. ebd., S. 151; HBD 34f.
24 Michael Keller.
25 Wolfgang Musculus.
26 Vgl. Nr. 2877,28f.