Heinrich-Bullinger-Briefwechseledition, Universität Zürich © Heinrich Bullinger-Stiftung Arpa Bibliothek Textbreite Schriftgröße

[1772]

Hermann Aquilomontanus an
Bullinger
Emden,
14. August 1543

Autograph: Zürich StA, E II 338, 1388r.-1389r. (Siegelspur) Teildrucke: Johann Heinrich Ott, Annales anabaptistici, Basel 1672, S. 100; J[acobus] ten Doornkaat Koolman, De Anabaptisten in Oostfriesland ten tijde van Hermannus Aquilomontanus (1489-1548), in: Nederlands Archief voor Kerkgeschiedenis, NS 46, 1964/65, S. 98

Hat Bullingers Brief vom 1. März erhalten. Der brabantisch-klevische Krieg bringt große Teuerung; der klevische Herzog [Wilhelm von Jülich] hat mit Gottes Hilfe Amersfoort besetzt und soll auch Breda eingenommen haben, doch die Kaiserlichen verfolgen die Kirche auch weiterhin; die Regentin [der Niederlande, Maria von Ungarn] steht unter dem Einfluss der Löwener Theologen und hat nach Ostern Besucher [protestantischer] Gottesdienste hinrichten lassen; die Theologen ertragen den Widerspruch von Laien nicht. In [Ost-]Friesland, wo die gottesfürchtige [Gräfin Anna]regiert, leitet ein frommer Pole [Johannes a Lasco]die Kirche, doch die hier aufgenommenen Täufer aus Belgien erweisen sich als halsstarrig und gefährden die Kirche. Freut sich über Bullingers Gesundheit und bedauert den Tod von Leo [Jud], dessen Katechismus hier geschätzt wird und dessen Passionshistorie man erwartet hatte; begrüßt die neue Bibelausgabe [,,Biblia sacrosancta"], die er noch nicht zu Gesicht bekam; hat [Bullingers] Matthäuskommentar gesehen, aber noch nicht gelesen; der Johanneskommentar wird von vielen erwartet. Würde sich wünschen, einen seiner drei Söhne zur Ausbildung nach Zürich schicken zu können. Bittet um ein gelegentliches Schreiben; ist auf die Werke der Gelehrten und besonders Bullingers angewiesen; hat täglich mit den Täufern zu kämpfen; entschuldigt sein verworrenes Schreiben.

Pratensius") stammte aus dem Piemont und diente mehreren französischen Gesandten in Venedig als Sekretär, wie aus einem Brief Pietro Aretinos vom Mai 1548 hervorgeht (Aretino, Opere IV/4, Nr. 610). Die von anderer Hand geschriebene Briefunterschrift lautet allerdings: "Maturinus Virginius Fonteniensis apud Pictones in Gallia". Herminjard (Corr. des réformateurs VIII 469f, Anm. 1) bezog diese Notiz auf den Briefschreiber und nahm an, es handle sich um einen (sonst nicht nachweisbaren) Barthélemi Des Prés aus Fontenay-le-Comte (Dép. Vendée). Die Unterschrift stammt aber wohl eher von jenem französischen Buchhändler Maturinus, nach dem sich del Prato am 5. April 1547 in seinem dritten und letzten Brief an Bullinger erkundigte (s. Zürich StA, E II 359, 2816: "Caeterum cuperem aliquid intelligere de Maturino, bibliopola Gallo, qui Tiguri agebat."). 1549 immatrikulierte sich ein Maturinus Virginius aus dem Bistum Luçon (Vendée) als Medizinstudent in Montpellier, s. Matricule de l'Université de médecine de Montpellier (1503-1599), hg. v. Marcel Gouron, Genf 1957. — Travaux d'Humanisme et Renaissance XXV, S. 115, Nr. 1802. Möglicherweise war Virginius der Überbringer dieses Briefs (vgl. auch oben Nr. 1770, 27-45, und unten Nr. 1824, 39-48).
1 Zu Aquilomontanus s. nun auch Eckart Krömer, in: Biographisches Lexikon für Ostfriesland, hg. im Auftrag des Ostfriesischen Landschaft von Martin Tielke, Aurich 2007, S. 16-18.
2 Der Brief, der zunächst wegen Botenmangels liegen blieb, wurde von Aquilomontanus am 12. März 1544 nochmals geöffnet und mit einer Nachschrift versehen; diese wird im folgenden Briefband separat ediert.


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Salutem.

Tandem literas kalendis martii descriptas 3 7. iulii Colonia missas accepi, amicorum praestantissime.

Infelix illud bellum Brabanticum cum Clivensi duce 4 omnem calamitatem his terris inducit, ut vix pauperibus supersit, quod edatur; tanta hic caristia 5 siliginis. Deus favet nunc Cliven[si] contra domum Burgundicam, que hucusque deum et homines sprevit; sic coguntur agnoscere se homines fore 6 et deum esse. Varia infestant Cliven[ses]. Ceperunt opidum[!] fortissimum in diocesi Traiectensi Amersfort nomine, 7 tribus miliaribus a Traiecto Inferiori 8 , quod propugnaculis muniunt, quibus se tueri satagunt; est enim finibus Gelrie propinquum. Insuper rumor a constans perseverat Clivensem (qui nunc Gelriam moderatur) Bredam valido Marte 9 cepisse; 10 est enim b singulare opidum Brabantie, quod comitatum cum agris subiectis merito reddit. Consternati sunt cesariani, cum omnia infeliciter cadant, consiliorum inopes, nec tamen c ecclesiam persequi cessant, ne in malis inconstantes reperiantur. Infausta de cesare 11 mussantur; qui d eloquuntur, plectuntur capite; 12 sic ludimus in hisce regionibus. Lovanienses theologi in instituto fortiter perseverant neque i[ota] de conceptis mittunt, ut indulgentias, cereas et parentalia post decennium absque rubore praedicent. Quid dicam, nisi mortem e Pharaonis brevi instare post tantas tenebras? 13 Attamen horum cecorum, insanorum consilio ac iuditio omnia regina, 14 cesaris soror, harum regionum gubernatrix, strenue f exequitur. A pascate 15 exusti, submersi, vivi confossi sunt, qui tamen celebrabant, indies templa visitabant, de quibus nullus habebat, quod mali diceret. 16 Quid volo? Insaniunt theologi, cum videant eorum

a Randbemerkung, vermutlich gleichzeitig mit der Nachschrift (vgl. Anm. 2) im folgenden Jahr angebracht: falsus rumor.
b Nach enim gestrichenes in.
c In der Vorlage nectamen.
d Vor qui gestrichenes cum.
e mortem über der Zeile nachgetragen.
f In der Vorlage strennue.
3 Bullingers Brief vom 1. März 1543 ist nicht erhalten.
4 Herzog Wilhelm von Jülich-Kleve-Berg-Geldern.
5 Teuerung; vgl. Hoven 51.
6 Vgl. Augustin, De civitate dei, 5, 24, 10-12 (CChr XLVII 160).
7 Zum erneuten Vorstoß des Söldnerführers Martin van Rossem, in dessen Verlauf Amersfoort und Eindhoven eingenommen wurden, s. Henne VIII 115f. Die Nachricht findet sich auch in einer um Anfang August von Ambrosius Blarer weitergeleiteten
"neuen Zeitung" aus Augsburg; s. Blarer BW II 197, Nr. 1027.
8 Utrecht.
9 mit starker Heeresmacht.
10 Das Gerücht steht in Zusammenhang mit dem oben Anm. 7 erwähnten Vorstoß van Rossems; vgl. auch unten Nr. 1775, 25-27, sowie MBW 3302.
11 Karl V.
12 Vgl. auch oben Nr. 1711, 27f.
13 Vgl. Ex 10, 21ff.
14 Maria von Ungarn, Statthalterin der Niederlande.
15 25. März.
16 Zum großen Ketzerprozess in Löwen, der im März begann und im Juni mit fünf Todesurteilen endete, s. unten Nr. 1811, 14f mit Anm. 10. Über Ketzerverbrennungen in den Niederlanden im Frühjahr 1543 berichtet auch Bucer in seinen Briefen an Landgraf Philipp von Hessen; s. Lenz II 131. 139.


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gloriam obscurari et a laycis argui; sed hec est hora eorum et tenebrarum potestas. 17

Hic satis valemus in Phrisia, quae nunc sub optima principe 18 vidua deum timente agimus et divino favore nobilem, pium et eruditum virum Polonum 19

17 Vgl. Lk 22,53.
18 Gräfin Anna von Ostfriesland, geb. Gräfin von Oldenburg, 1501-1575, heiratete 1530 Graf Enno II. Cirksena von Ostfriesland. Nach dessen Tod 1540 übte sie ab 1542 die Regentschaft für ihre noch unmündigen Söhne aus. Dass sie 1558 entgegen dem Primogeniturrecht alle drei Söhne vom Kaiser belehnen ließ, führte zu einem verhängnisvollen Bruderzwist. Die persönlich der reformierten Richtung zuneigende Gräfin verfolgte eine konfessionsneutrale Politik und nahm viele Glaubensflüchtlinge auf, erließ auf Druck des Kaisers allerdings auch Mandate gegen die Täufer. 1554 ermahnte Bullinger die Gräfin im Namen der Zürcher Pfarrer zu weiterer Aufnahme französischer und englischer Exulanten und zu konsequenter Durchsetzung der Reformation (s. Zürich StA, E II 338, 1499f). —Lit.: Heiko Ebbel Janssen, Gräfin Anna von Ostfriesland -eine hochadelige Frau der späten Reformationszeit (1540/42-1575). Ein Beitrag zu den Anfängen der reformierten Konfessionalisierung im Reich, Münster 1998. — Reformationsgeschichtliche Studien und Texte 138; Henning P. Jürgens, Die vormundschaftliche Regierung der Gräfin Anna und die Berufung Johannes a Lascos zum ostfriesischen Superintendenten, in: Emder Jahrbuch 79, 1999, S. 42-65; Heinz Maybaum, in: NDB I 300f.
19 Der polnische Adlige Johannes a Lasco (Laski, Lascius, Jan Laski), 1499-1560, ein Neffe des gleichnamigen polnischen Primas, studierte mit dessen Förderung in Rom, Bologna und Padua, bevor er 1521 Priester und königlicher Sekretär wurde. 1524 begegnete er, inzwischen mit verschiedenen Benefizien versehen, möglicherweise Zwingli, vor allem jedoch Erasmus, bei dem er nach der Rückkehr aus Paris 1525 für ein halbes Jahr wohnte und dessen Bibliothek er erwarb. Geprägt durch erasmianischen Geist kehrte er nach Polen zurück, wo er u. a. für Johannes
Zápolya diplomatisch tätig war. Nachdem sich die Aussichten auf das Erzbistum Gnesen zerschlagen hatten, begab er sich nach Löwen, wo er 1540 heiratete. Zunächst suchte er Zuflucht in Emden, kehrte dann aber nochmals nach Polen zurück und bekannte sich mit einem Eid zum alten Glauben. Kurz darauf brach er jedoch mit der römischen Kirche und wurde 1543 zum Superintendenten der ostfriesischen Kirche berufen. Theologisch der oberdeutschen Richtung und Bucer nahestehend, engagierte er sich für den Aufbau eines einheitlichen Kirchenwesens in der konfessionell gemischten Grafschaft. Nach der Einführung des Interims verlor er sein Amt; darauf stand er 1550-1553 der Flüchtlingsgemeinde in London vor. Aus England und Dänemark vertrieben, hielt er sich 1555/56 nochmals in Emden auf, wo er seine Stellung jedoch nicht mehr festigen konnte; nach kurzer Tätigkeit in der Frankfurter Flüchtlingsgemeinde (1556) kehrte er, ermutigt durch Bullinger und Calvin, 1557 in seine Heimat zurück, wo er bis zu seinem Tod als Superintendent der reformierten Gemeinden Kleinpolens wirkte, ohne die konfessionelle Spaltung dieser Kirche überwinden zu können. Aus seiner Korrespondenz mit Bullinger sind rund 25 Briefe erhalten. — Lit.: Christoph Strohm (Hg.): Johannes a Lasco (1499-1560). Polnischer Baron, Humanist und europäischer Reformator. Beiträge zum internationalen Symposium vom 14.-17. Oktober 1999 in der Johannes a Lasco Bibliothek Emden, Tübingen 2000. —Spätmittelalter und Reformation, Neue Reihe 14; Henning P. Jürgens, Johannes a Lasco in Ostfriesland. Der Werdegang eines europäischen Reformators, Tübingen 2002. — Spätmittelalter und Reformation, Neue Reihe 18; Maria Cytowska, in: Contemporaries II 297-301; Menno Smid, in: TRE XX 448-451; Hellmut Zschoch, in: RGG 3 V 83.


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nacti, qui principis nomine ecclesiam Phrisie episcopus moderatur; sed anabaptiste, qui huc ||1388v. ex Gallia Belgica numerosi declinarunt illinc propulsi, negotium non absque molestia omnibus praebent. Rectores, regiones resipiscentiam miserorum (miseros ac desolatos primum se proclamant) sperantes misericordia moti receperunt; nunc recepti fortius perseverant, novum Iudeorum genus, quod nullis monitionibus flectitur, sed indies gregariorum more, quo plures, eo vicinis graviores sunt, et ni singularis deus nos aspitiat, totam hanc provintiam infitient. Utinam remedium sanum quis adponeret! Victi se g vicisse proclamant, ecclesiam nostram ut impuram detestantur, contiones, ministros rident, habent suos doctores et conventus, attamen secrete. Absque turba pelli non possunt, et si hoc modo perseverent, hec pestis totum corpus infitiet. Hec de infausto bello et nostra Phrisia.

Nunc paucis ad literas tuas. Gaudeo te valere cum tuis, sed doleo Leonem, fidum ministrum, ecclesie sue sublatum. 20 Catechismus 21 hominis hic ab omnibus laudatur. Expectabatur passionis dominice memoria 22 in h fine catechismi promissa. 23 Insuper gaudeo biblia emissa 24 diutius desiderata 25 , quae nondum videre licuit; spero ex hisce nundinis 26 omnia tua. Commentariorum in Mat[thaeum]27 unum exemplar vidi, sed non legi; in Ioannem plures desiderant, quod promisisti. 28 Perge, praestantissime virorum, vineam domini excolere et vulpeculas demolientes eiicere. 29

Ego senio fractus testamentum condo, quanquam nil sit fortunarum; attamen mihi tres sunt filii 30 30 pauperes, qui nunc literas flectere et vexare incipiunt; iis pro paterno affectu provisum velim. Utinam mihi vicinius i Tigurum; mitterem iuvenem pulchrum facie et ingenio pulcherrimum, parvum statura, animo maximum, ut istic pietatem, mores bonos una imbiberet; sed hec optare, sperare nequaquam.

g Vor se gestrichenes ostendunt.
h Vor in ein unklares (gestrichenes?) Zeichen.
i Endung undeutlich korrigiert.
20 Leo Jud war am 19. Juni des Vorjahres gestorben; s. HBBW XII, s. 99.
21 Der größere Katechismus Leo Juds (dieser ist gemeint, wie aus der anschließenden Bemerkung hervorgeht) war erstmals 1534 bei Christoph Froschauer erschienen; s. Karl-Heinz Wyss, Leo Jud. Seine Entwicklung zum Reformator 1519-1523, Bern 1976. — Europäische Hochschulschriften III/61, S. 203, Nr. 33; BZD C 231. 677.
22 Juds Passionshistorie (,,Des lydens Jesu Christi [...]historia [...]") war bereits 1534 und in zweiter Auflage 1539 ebenfalls bei Froschauer gedruckt worden; s. Wyss,
aaO, S. 203, Nr. 34; BZD C 232. 280; Leo Jud, Vom Leiden / Sterben und Auferstehen des Herrn, bearb. von Oskar Farner, Zürich 1955.
23 AaO (vgl. oben Anm. 21), f. CVIIr.
24 Die "Biblia sacrosancta" (BZD C 319f) war im Frühjahr 1543 erschienen; vgl. Pellikan, Chronikon 156.
25 Vgl. Aquilomontanus an Bullinger, 7. März 1542, HBBW XII, S. 53, 27.
26 Zum Termin der Frankfurter Herbstmesse s. HBBW VI, S. 406, Anm. 5.
27 Gemeint ist Bullingers Matthäuskommentar von 1542 (HBBibl I 144).
28 Bullingers Kommentar zum Johannesevangelium (HBBibl I 153) wurde in diesen Tagen fertiggestellt; vgl. unten Nr. 1774.
29 Vgl. Hhld 2, 15.
30 Nicht namentlich bekannt.


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Postremo velim quandoque, praesertim in nundinis, paucis scribas, quid valeas, quid cuda[s] k . Nos hic ab uberibus doctorum, praesertim tuis, pendemus. Tuum est rationale lac filiis tuis habunde (cum large acceperis) ministrare et fovere. 31 Ego, ut nosti, in alium locum celebriorem migravi, 32 ubi quotidie cum anabaptistis pertinacissimis concertandum.

Hec, oro, boni consulas, amicorum suavissime, que, ut in buccam 33 , evomui contentus mentem indicasse, de compositione minime sollicitus. Vale.

Emde, pridie assumpte virginis anno 1543.

||1389r. Hermannus Aquilomontanus, ecclesie Domus

Senum 34 prope Emdam minister, tibi deditissimus.

[Adresse auf der Rückseite:] Prestantissimo viro d. [Henri]co l Bullingero, Tig[urine ecclesie]m ministro vigilaintissimo, suo]n maiori in domino. Tho Zurick.