Heinrich-Bullinger-Briefwechseledition, Universität Zürich © Heinrich Bullinger-Stiftung Arpa Bibliothek Textbreite Schriftgröße

[2046]

Oswald Myconius an
Bullinger
Basel,
5. Dezember 1544

Autograph a : Zürich StA, E II 336, 207 (neu: 225)(Brief)(Siegelspur); Zürich ZB, Ms F 62, 193f (Beilage) Teildruck: CO XI 781, Nr. 589 (Brief). 762-766, Nr. 582 (Beilage); Druck der Beilage: Corr. des réformateurs IX 353-358, Nr. 1407

Myconius hat nie gezweifelt, dass Bullinger noch lebe [in Bezug auf einen nicht erhaltenen Brief Bullingers an Myconius]. Hat die von Bullinger zugeschickten Angaben zum kaum einzuhaltenden Frieden [von Crépy zur Kenntnis genommen]; hat nichts über den kommenden [Wormser] Reichstag gehört, fürchtet aber für die [Reformation], denn die vom Kaiser ausgeübte Gewalt gegen die Täufer mag sich nun wohl auch gegen die unter sich zerstrittenen und von Gott verlassenen [Protestanten]richten. Hat noch nicht Cochläus' [,,Replica brevis"]gesehen, nur Bullingers erste ihm zugesandte Widerlegung [,,Ad Ioannis Cochlei De canonicae scripturae et catholicae ecclesiae authoritate libellum ... responsio"]; von Gast erfuhr er, wie der dem [Thomas] Murner ähnliche Cochläus seine [,,Replica brevis"] den Luzernern gewidmet hat: eine ganz heikle Lage; möge Bullinger bei seiner Antwort die Luzerner nicht gereizt haben! Hat noch nicht Luthers [,,Kurtz bekentnis"] gegen Zwingli und Oekolampad gesehen; Gast wurde davon ein Exemplar zugesandt; Myconius hat gehört, wie die Schrift (besonders im Hinblick auf den kommenden Reichstag) großes Missfallen bei den Gelehrten und Frommen erregt; es ist zu fürchten, dass diese Streitigkeiten die rechtgläubige Kirche dahinraffen; keinem Frommen kann dieser dem Papst nachgeahmte Bannfluch gefallen; und diejenigen, die solches begrüßen, sollten sich fragen, wie sie dazu kommen. [Johann Jakob Wecker oder Philipp Bächi] schrieb, dass durch die Vermittlung Gelehrter Philipp [Melanchthon nun] mit Luther übereinstimme; Myconius hat aber unterdessen Erfreulicheres für Gelehrte erfahren: Melanchthon schweigt nur wegen des Reichstags, bis er zur Äußerung gezwungen wird; Myconius hat sich sehr gefreut, dass Melanchthon ihn durch Gasts Neffen [Philipp Bächi]grüßen ließ. Myconius wundert sich, dass Theodor [Bibliander] über die Genesis liest, da seine Auslegung der Apokalypse kaum schon beendet sein kann. Übersendet Briefe von Calvin und [Guillaume] Farel [oben Nr. 2023?] sowie eine Schrift Calvins [die Beilage], eine Art Bescheid über den zänkischen [Jean Chaponneau]; Myconius konnte offensichtlich bei diesem durch ein vor einigen Monaten verfasstes Schreiben an Farel wenig bewirken. Alexander Rischacher ist [Bullinger] für die bereits sehr große erwiesene Wohltat höchst dankbar, fragt jedoch, ob es möglich wäre, dass er seinen Sohn [Martin?]bis zur Fastnacht [1545] in Zürich lassen dürfe, da dieser sonst in dem von Unterversorgung geplagten Basel keine Stelle finden würde; man wird den Knaben wohl davon überzeugen können, da es sich dabei nicht um eine große Zeitspanne handelt. Hat Bullingers Brief an Bucer [Nr. 2037]weitergeleitet. [Beilage:] Schreiben Calvins vom 7. November 1544 im Namen der Pfarrer von Genf an die Pfarrer von Neuenburg. [P. S.:]Auf Wunsch der Neuenburger hat Myconius für die [Zürcher]eine Abschrift von Calvins Schreiben veranlasst und das Original nach Straßburg weitergeleitet.

S. De Bullingero multa cogito. Mortuum esse non cogitavi hactenus, 1 postquam tot indiciis vivere se probat in dies magis ac magis. Utinam vivat diu domino et pietati!

a Mit Unterstreichungen von späterer Hand. Eine wohl durch einen Schüler oder Gehilfen Myconius' angefertigte Abschrift findet sich in Zürich ZB, Ms F 81, 392.
1 Anspielung auf den Ausgangspunkt eines nicht mehr erhaltenen Briefes Bullingers, der auch unten bei Anm. 2, 27 und 42 vorauszusetzten ist.


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Remittis ca[pita]pacis, 2 de quibus aiunt caesarem praestare non posse, quae promiserit. Causam reiicit in commissarios 3 . De futuris comitiis 4 nihil certi audio. Timeo vero religioni, postquam gladius caesareanus 5 a sanguine catabaptistarum inebriatur adeo. 6 Adsuescet enim, ut desinere nesciat. Hoc 7 autem exhausto veniet nimirum ad christianos praesertim incrementum sic accipientibus inter nos dissensionibus et anathematizationibus 8 . Deus pacis nobiscum non est, 9 utra tandem pars in causa imo in culpa sit.

Nihil Cochlaeanum adhuc vidi. 10 Primam tuam vidi responsionem, quam tu misisti. 11 Ex Gastio 12 rescivi Lucernanis replicam a Cochlaeo dicatam 13 ; et dixi: "Malum consilium consultori pessimum."14 Occurrerunt protinus menti meae, de quibus non bene cogitavi: et in Cochlaeo reperi spiritum Murneri 15 . Spero te sic respondisse, ut animos Lucernatum non solum non commoveas, 16 sed captos forsitan scripto antichristiano revoces et tibi vendices. Si unquam opus fuit prudentia, in ista fuit opus responsione, quantum adtinet ad Lucernates.

2 Der Frieden von Crépy. -Bullinger muß um den 24. November 1544 (s. unten bei Anm. 42) Myconius Nachrichten über den erwähnten Frieden aus einem Brief Vadians übermittelt haben; s. oben Nr. 2018, 4f; 2030, 21f.
3 Zu verstehen: die Vermittler des Friedens; s. oben Nr. 1992, Anm. 8.
4 Der Reichstag zu Worms; s. oben Nr. 1980, Anm. 22.
5 Zum Ausdruck vgl. Cicero, Epist. ad Att. 9. 1, 4.
6 Vgl. Apk 17, 6. -Zu den vom Kaiser unterstützten Mandaten aus dem Sommer und Frühherbst 1544 gegen die Täufer s. Documenta anabaptistica Neerlandica, Bd. 1: Friesland en Groningen (1530-1555), hg. v. Albert Fredrik Mellink, Leiden 1975, S. 168-172, doch ist nicht bekannt, dass damit eine Hinrichtungswelle verbunden gewesen wäre. Myconius könnte von den im Oktober in Antwerpen ausgeführten Hinrichtungen (s. Alphonse L. E. Verheyden, Le Martyrologe protestant des Pays-Bas du Sud au XVI e siècle, Bruxelles 1960, S. 174) oder von der im August in Deventer vollstreckten Enthauptung des Georg Ketels - ein Hauptanhänger des David Joris, welcher die Informationsquelle der Basler gewesen sein mag -gehört haben (s. Friedrich Rippold, Heinrich Niclaes und das Haus der Liebe, in Zeitschrift für die historische
Theologie, Gotha 1862/3, S. 359, Anm. 110). -Vgl. ferner oben Nr. 1935 mit Anm. 6.
7 Zu verstehen: sanguis.
8 Anspielung auf Luthers verbannendes "Kurtz bekentnis"; s. oben Nr. 1971, Anm. 20. Vgl. auch unten Z. 19-30.
9 Anspielung auf 2 Kor 13, 11 und Phil 4, 9 (deus pacis erit vobiscum).
10 Cochläus' "Replica brevis"; s. oben Nr. 1999, Anm. 12.
11 Bullingers "Ad Ioannis Cochlei De canonicae scripturae et catholicae ecclesiae authoritate libellum ... responsio"; s. oben Nr. 1839, Anm. 3. -Bullinger mag Myconius ein Exemplar davon mit oben Nr. 1877 zugesandt haben, auch wenn die Schrift dort nicht erwähnt ist.
12 Johannes Gast.
13 Cochläus' Schrift "Replica brevis" (s. oben Anm. 10) war den Luzernern gewidmet.
14 Adagia, 1, 2, 14 (ASD II/1 226-228, Nr. 114). -Vgl. oben Nr. 2014, 3-5.
15 Der Franziskaner Thomas Murner, der ab 1525 für einige Zeit Aufnahme in Luzern fand.
16 Bullinger hat in seiner damals bereits erschienenen "Brevis greek (s. oben Nr. 2010, Anm. 22; 2040, 23f) die Luzerner nicht erwähnt.


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Nec vidi Lutheri libellum iam recens aeditum contra Zvinglium et Oecolampadium 17 . Nihil igitur vel boni vel mali de hoc dicere valeo. Ad Gastium missus est unus, 18 de quo quidem mihi narravit, non indicavit. Expecto, donec alicunde et mihi videre liceat. Illud audio, doctis et piis eum valde displicere, maxime propter comitia. 19 Nam istae dissensiones, dum audiuntur esse tam acres, quid 20 iudicari poterit, quam tollantur omnes? In ecclesiam catholicam enim nil nisi dissidia seminant. Papistica illa anathematizatio 21 nemini pio placere potest, nisi forsitan causae subsint, quibus ea iustificari queat; verum tales equidem nondum comperi. Videant, qui eas probent, vel rapiunt, unde non debebant, vel maligne confingunt. Equidem in hac tota digladiatione nihil possum nisi dolere et precari: "Ne inducas nos, o pater coelestis, in tentationem, sed libera nos a malo"[Mt 6, 13].

De Philippo 22 Witenbergensis quidam 23 scripserat convenire ipsi cum Luthero maxime atque id authoritate doctorum, qui illic sunt, interposita. 24 Verum, dum haec scribo, viris doctis respondent laetiora quam pro re me accepisse: Silentium tamen acturum Philippum ob comitia, donec loqui compellatur. Pro gratia habeo, quod ille vir 25 his diebus me salutavit per Gastu nepotem 26 amicissime.

Quod valetis omnes, ut scribis, 27 valde gaudeo. Miror autem, quod Theodorum 28 praelegere dicis Genesim. 29 Quo igitur Apocalypsis? 30 Non enim arbitror librum tantae obscuritatis iam finitum. Quodsi finitus est, expectamus et quidem avide revelationes explicatas.

17 Vgl. oben Anm. 8.
18 Vgl. oben Nr. 2045, 2. 23.
19 Vgl. oben Nr. 2045, 13-15.
20 Zu verstehen: quid aliud?
21 Siehe oben Nr. 2028, Anm. 47. Vgl. ferner oben Nr. 2021, 26-28.
22 Philipp Melanchthon.
23 Johann Jakob Wecker (s. oben Nr. 2045 mit Anm. 2) oder Philipp Bächi (s. unten Anm. 26).
24 Falls Myconius' und Gasts Informant identisch ist, hat Gast (s. oben Nr. 2045, 23-26) Bullinger offensichtlich nur den ersten Teil der Information über Melanchthon vermittelt.
25 Melanchthon.
26 Gasts Neffe Philipp Bächi (Bechi, Bechius; s. Gast, Tagebuch 43). Nach einem Studienaufenthalt in Wittenberg studierte dieser seit dem Wintersemester 1542/43 in Leipzig weiter. Erst 1554 kam er nach Basel
zurück (s. MBW, Regesten XI 133; Amerbach, Korr. VII 273f). Falls er sich damals auf Besuch nach Basel begeben haben sollte, könnte er der Überbringer des Briefes aus Wittenberg (s. oben Z. 31) und der mündliche Vermittler (s. oben Z. 33f) von erfreulicheren Nachrichten über Melanchthon und von dessen Grüßen an Myconius gewesen sein. Noch wahrscheinlicher aber wurden diese Größe und eine der oben erwähnten Nachrichten über Melanchthon durch einen nicht mehr erhaltenen Brief Bächis an Myconius vermittelt.
27 Siehe oben Anm. 1 und 2.
28 Theodor Bibliander.
29 Bibliander las über die Genesis ab dem 27. Oktober 1544; s. Egli, Analecta II 135f.
30 Zu Biblianders Lesungen über die Apokalypse s. oben Nr. 1971, Anm. 22; 1980, Anm. 11.


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Mitto literas Calvini 31 et Farelli 32 in hoc b mihi commendatas, scriptum 33 quoque Calvini, imo iudicium de fratre plus satis contentioso 34 apud Neocomenses. Quid petant, ex literis cognosces. Equidem fratrum nomine scripsi eadem de re ante menses aliquot c ad Farellum, 35 sed parum, ut video, profeci, dum ille 36 , quisquis est, perstat in concepta duricie 37 . Sic satan nos tentat ubique; miserum, quod non resistimus, cum arma habeamus parata. 38

Alexander de Rischach 39 ingentes agit per me tibi gratias nihil non promittens, quantum per vires liceat, quod ad gratum animum ostendendum pertinet. Quamvis autem beneficia usque huc praestita magnipendat, rogat tamen, in hoc esse velis, ut filius 40 isthic manere possit usque ad Bacchanalia d 41 . Nam si nunc redierit, non inveniet locum ob rerum paenuriam in tota civitate. Grave est hodie vivere Basileae ob causam dictam, adeo sunt omnia, vix dico cara, sed rara. Per dissimulationem tantillo tempore facile retinebitur.

Tuas ad Bucerum 42 protinus dimisi.

Vale semper et, ut me gratiae dei commendas, ita ego te e commendo Christo domino. Basileae, 5. decembris anno 1544.

Os. Myconius

tuus.

[Adresse auf der Rückseite:] D. Heinricho Bullingero doctissimo, antistiti Tigurinorum fideli, domino in Christo observando suo.

Ms F 62, 193r.-194r. || [Beilage:] [Calvin im Namen der Pfarrer von Genf an die Pfarrer von Neuenburg, Genf, 7. November 1544].

b hoc über der Zeile nachgetragen.
c ante menses aliquot am Rande nachgetragen.
d Über nicht gestrichenem Saturnalia.
e te über der Zeile nachgetragen.
31 Falls der Brief an Myconius gerichtet war, ist er nicht erhalten. - Calvins Brief an Bullinger (oben Nr. 2035) wurde durch einen Boten direkt nach Zürich vermittelt.
32 Oben Nr. 2023 (dessen Datum in diesem Fall später anzusetzen wäre) oder einen unbekannten Brief Farels an Myconius, Bullinger oder sogar (s. unten Nr. 2053) an Megander.
33 Siehe unten Z. 62f.
34 Jean Chaponneau; s. oben Nr. 2022, Anm. 2. - Zur Sache s. oben Nr. 2022f. 2035; Corr. des réformateurs IX passim; P[aul]
Wernle, Calvin und Basel bis zum Tode des Myconius 1535-1552, Basel 1909, S. 49f; Farel, Biographie 540-550.
35 Nicht erhalten.
36 Jean Chaponneau.
37 Vgl. Ri 2, 19; Röm 2, 5.
38 Vgl. Eph 6, 11-18.
39 Alexander Rischacher; s. zuletzt oben Nr. 1978, 1-5.
40 Wahrscheinlich Martin Rischacher; s. HBBW XIII 299, Anm. 3.
41 Bacchanalia wie auch Saturnalia bezeichnen hier die Fastnacht 1545. -Zu dem darauf angeführten Grund dieser verzögerten Heimkehr vgl. unten Nr. 2054 mit Anm. 34.
42 Oben Nr. 2037 vom 24. November 1544, den Bullinger mit seinem verlorenen Brief an Myconius übersandt hatte.


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194v.

|| [Nachschrift von Myconius:] Descripsi vobis f , nam sic voluerunt fratres Neocomenses 43 . Autographon dimisi Argentinam. Valete.

Os. Myconius

vester.